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Kultur: Raus nach Berlin!

„Ich kenn’ keinen“: Jochen Hicks sensibler Dokumentarfilm über schwules Leben in der Provinz

Hartmut ist stolz. „Ich will nicht verstanden werden, mir reicht’s, wenn ich toleriert werde“, sagt der HIV-positive Endfünfziger, wenn die Heteros wieder mal angestrengt in Mitgefühl machen. Jahrzehntelang hat er am Stammtisch daheim in Albstadt über Schwulenwitze mitgelacht und sogar selber welche erzählt, und sich dann doch geoutet, mit 51 – zu spät, wie er heute findet. Und wenn es ihm zu eng wird zu Hause? Dann lebt er sich in Thailand aus, bei den zarthäutig-schmusigen Thai-Jungs, die sogar küssen, „das gibt’s hier doch gar nicht bei bezahltem Sex“.

Stefan ist melancholisch. Lebt mit 26 bei Mama im 700-Seelen-Dorf Michelwinnaden und hält sich für den „einzigen Schwulen im Ort“. Forstwirt ist er, und nachdem er sich geoutet hatte, wollten zwei Kollegen nicht mehr mit ihm „zsamme schaffe“, aber das hat er mit seinem leisen Lächeln auch noch überstanden. Und wenn die Mama über das Schwulsein ihres Sohnes breit dahersagt, „bei ihm hätt’ ich’s nie vermutet, weil er so’n fröhlicher Typ war“, dann bleibt ja immer noch das Auto, 150 Kilometer nach Stuttgart, 150 nach München. „Ich wohn’ zentral.“

Uwe ist fröhlich. Am liebsten trägt er, der nie beim Bund war, Militärklamotten, und damit geht’s am Wochenende 30 Kilometer nach Villingen-Schwenningen, in den „Hölzlekönig“. Oder wenn er mal weiter weg muss von Mama und ihren vielen Sofa-Teddybären, dann fährt Uwe nach Berlin. Da kann es dem in schönstem Alemannisch daherschwätzenden technischen Zeichner schon mal passieren, dass er überpünktlich im Darkroom eintrifft. Der Typ hinterm Tresen: „Da biste ’ne Stunde zu früh. Hier geht das erst um halb eins los.“

Abgewürgtes Leben, dieses Schwulsein in der Provinz. „Ich kenn’ keinen“ – so reden die Leute, wenn sie nach Kontakten zu Schwulen gefragt werden, und so hat Jochen Hick auch seinen offenen, diskreten, informativen und zart investigativen Dokumentarfilm genannt. Hat sich umgehört an Stammtischen und in Kirchenkreisen, hat sich umgesehen zwischen Tabu und Tabu, vom gediegenen Wohnzimmer-Interieur zum vorsichtig-schrillen CSD-Umzugsversuch etwa in Ravensburg, wo Fundamentalchristen eifrig ihre Transparente zur Gegen-Demo hochhalten: „Jesus liebt dich, kehr um!“

Dramatisch ist der Film und erschütternd in der undramatischen, unerschütterlichen Art, mit der die Schwulen in ihrer überwiegend stumpfen Umgebung zurechtzukommen gelernt haben, ob ganz jung oder Ende siebzig. Die meisten sind bescheiden, fordern allenfalls ein bisschen Nachsicht. Und wünschen sich, dass die Eltern wenigstens nicht in Tränen ausbrechen beim unvermeidlichen Outing eines schrecklichen Kaffeenachmittags. Wenn Mutter weint, das ginge noch. Aber die Väter, diese sonst niemals weinenden Väter.

Ab Donnerstag im Broadway, FT Friedrichshain, Hackesche Höfe, Xenon und Yorck

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