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Kultur: Recht der Sieger

Die Zeitschrift „Osteuropa“ gibt einen umfassenden Überblick zu NS-Kunstraub und Sowjet-Beutekunst

Unlängst wurde wieder einmal „ein deutlicher Schritt nach vorne“ in den deutsch-russischen Museumsbeziehungen begrüßt, diesmal von Kulturstaatsminister Neumann. Als Bremer weiß er sehr gut, dass das in Wahrheit nichts weiter ist als Pfeifen im dunklen Wald. Denn nicht einmal die von einem Rotarmisten geraubten Schätze der Kunsthalle Bremen sind aus Russland zurückgekehrt, obwohl sie im Unterschied zu Millionen anderer dorthin „kriegsbedingt verbrachter Kulturgüter“ sogar die Minimalanforderung des russischen Verstaatlichungsgesetzes von 1998 auf Rückgabe erfüllen.

Stillstand, nicht Fortschritt – das ist die Lage. Allein die Erforschung der Geschichte kommt voran. Immer deutlicher tritt das erschreckende Panorama der gesamteuropäischen Besitzverschiebungen vor Augen. Die Termini „Raubkunst“ für die Plünderungen der Nazis sowie „Beutekunst“ für die „Trophäen“ der Roten Armee verschränken sich. Auslöser war die Kriegspolitik des NS-Regimes, darüber kann es keinen Zweifel geben. Aber auch sie hatte Vorgänger, man denke nur an den systematischen Kunstraub der napoleonischen Truppen in Deutschland.

„Mit dem Recht der Sieger wurde vieles verkauft, bekommen, gefunden, weggegeben, gestohlen“, erklärt Jekaterina Genieva, die Direktorin der Moskauer Bibliothek für fremdsprachige Literatur, eine der wenigen besonnenen Stimmen inmitten der Kakophonie des wiedererwachten russischen Nationalismus. Sie bezieht sich auf die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch ihr Wort bildet so etwas wie einen Leitfaden des soeben erschienenen Doppelheftes der Zeitschrift „Osteuropa“, das sich unter dem Titel „Kunst im Konflikt“ den Kriegsfolgen und Konflikten in ganz Europa widmet. Eine bessere Zusammenstellung der diversen Aspekte – der Einzelfälle, der Ländersituationen, der institutionellen Verfahren – als die des 500 Seiten starken Readers der renommierten Zeitschrift ist derzeit nicht auf dem Markt.

Darin ist das Interview mit Frau Genieva ein Höhepunkt, weil sie die Vertracktheit der Probleme auf den Punkt bringt. Wie verwickelt Raub und Beute miteinander sind, zeigt die Provenienzforscherin Anja Heuß am Beispiel der ungarischen Sammlung Hatvany, bei der sich bis heute nicht klären lässt, ob sie beim deutschen Rückzug mitgeschleppt oder von der Roten Armee aus einem Banksafe abtransportiert wurde. Oder Sabine Rudolph am Beispiel der Sammlung des jüdischen Bankiers Victor von Klemperer, die von den Nazis beschlagnahmt wurde und seit 1945 in Russland lagert.

36 Beiträge enthält der Band, die alle Aspekte vom Beginn der NS-Kulturpolitik 1933 bis zum Versanden der deutsch-russischen Verhandlungen Ende der neunziger Jahre umfassen. Den roten Faden bildet das Streben nach Aufklärung der Fakten – und mit ihm der Wunsch nach der Auffindung der verschollenen und der Zugänglichmachung der versteckten Kulturgüter. Dass „Zugang“ manchem Autor zum Zauberwort gerät, ist angesichts der verfahrenen Lage verständlich – und doch ist das „virtuelle Museum“, das Kristiane Janeke vorschlägt, eine Lösung allenfalls für gewöhnliche Bibliotheks- und Archivbestände, nicht aber für singuläre Kunstwerke, die nun einmal im Original gesehen werden wollen. Und es gilt vor allem die Einsicht in die Dimension des kollektiven Bewusstseins: „Denn so lange die besiegte Nation dauert, wird auch ihre Kränkung über jenen Verlust dauern, der alle Jahrhunderte nicht ersetzt werden kann.“

Der Satz stammt – aus dem Jahr 1798. Er gilt bis heute, und zwar in alle Himmelsrichtungen, nach West und – wie hierzulande gern übersehen – gleichermaßen nach Ost.

Osteuropa, Heft 1-2/2006: Kunst im Konflikt. 496 Seiten, 50 Abb., 28 €.

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