zum Hauptinhalt

Kultur: Rechte Gewalt: Stumme Anklagen

Selbst abgehärtete Experten zeigen sich geschockt: "Das ist ein Horrorfall", heißt es in den Sicherheitsbehörden - auch wenn dann automatisch der Hinweis folgt, noch sei nicht geklärt, ob der sechsjährige Joseph von Rechtsextremisten umgebracht wurde. Dies gilt offenbar auch für 57 von insgesamt 93 Ausländern und Deutschen, die Tagesspiegel und "Frankfurter Rundschau" in einer Liste der Todesopfer rechter Gewalt genannt haben.

Von Frank Jansen

Selbst abgehärtete Experten zeigen sich geschockt: "Das ist ein Horrorfall", heißt es in den Sicherheitsbehörden - auch wenn dann automatisch der Hinweis folgt, noch sei nicht geklärt, ob der sechsjährige Joseph von Rechtsextremisten umgebracht wurde. Dies gilt offenbar auch für 57 von insgesamt 93 Ausländern und Deutschen, die Tagesspiegel und "Frankfurter Rundschau" in einer Liste der Todesopfer rechter Gewalt genannt haben. Bundesinnenminister Otto Schily verkündete am Dienstag in Wiesbaden, 36 Menschen seien in den zehn Jahren seit der Wiedervereinigung von rechten Gewalttätern umgebracht worden. Über die Differenz zu den 93 Toten der Liste in den beiden Zeitungen sagte Schily bei der Eröffnung der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes nichts. Er teilte lediglich mit, bislang sei offiziell von 25 Opfern die Rede gewesen. Doch die Verwirrung nimmt kein Ende.

Das Bundesinnenministerium hatte zuvor von 26 Toten gesprochen. "Das könnte ein Zählfehler gewesen", heißt es. Doch auch die Zahl 25 ist inzwischen korrigiert worden. "Es waren 24 Todesopfer, zu denen nun zwölf hinzugekommen sind", gab die Pressestelle des Bundeskriminalamts bekannt. Die Erklärung: Ein Todesfall sei aus der Statistik herausgenommen worden - aufgrund der Überprüfung der kompletten Liste, die Tagesspiegel und "Frankfurter Rundschau" veröffentlicht haben. Offiziell gilt nun der Tod eines Obdachlosen, der im Juli 1993 in Marl (Nordrhein-Westfalen) nach einem Skinhead-Angriff starb, nicht mehr als rechtes Tötungsverbrechen. Obwohl die Bundesregierung noch 1999 diesen Fall in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der PDS-Bundestagsfraktion erwähnt hat.

Erst drei Tage nach Schilys Auftritt beim Bundeskriminalamt war zu erfahren, welche zwölf Todesopfer rechter Gewalt neu mitgezählt werden. Darunter sind vier Tote, die von der CDU-FDP-Regierung auf Anfragen der PDS genannt worden waren, unter Rot-Grün aber nicht mehr. Im Einzelnen

Am 16. Juni 1991 erstach ein Neonazi in Friedrichshafen (Baden-Württemberg) den Angolaner Agostinho Comboio.

Der Rumäne Dragomir Christinel wurde am 15. März 1992 in Saal (bei Rostock) von jungen Deutschen zu Tode geprügelt.

Am 19. März 1992 warf ein Skinhead den Obdachlosen Ingo Finnern ins Becken des Flensburger Hafens. Das Opfer ertrank.

Zwei Skinheads misshandelten am 7. November 1992 den Obdachlosen Rolf Schulze nahe Lehnin (Brandenburg) zu Tode.

Sieben Todesopfer wurden offiziell bislang nicht erwähnt

Die Kellnerin Waltraud Scheffler traten Neonazis am 11. Oktober 1992 in Geierswalde (Sachsen) zu Tode.

Im thüringischen Arnstadt schleiften am 18. Januar 1993 fünf Skinheads den Parkwächter Karl Sidon auf eine Straße. Sidon wurde mehrmals von Autos überrollt.

Der Bundeswehrsoldat Peter T. wurde am 25. Mai 1995 bei Hohenstein/Ernstthal (Sachsen) von Skinheads derart verprügelt, dass er neun Tage später starb.

Am 23. Februar 1997 erschoss der Berliner Neonazi Kay Diesner den Polizisten Stefan Grage auf dem Autobahn-Parkplatz Roseburg (Schleswig-Holstein).

Der arbeitslose Augustin Blotzki wurde am 8. Mai 1997 in Königs Wusterhausen (Brandenburg) von Rechtsextremisten zu Tode getreten.

In der Nähe von Leipzig schlugen am 4. Juli 1998 acht junge Deutsche den Portugiesen Nuno Lourenco zusammen. Das Opfer erlag im Dezember seinen Verletzungen.

Der Algerier Farid Guendoul alias Omar Ben Noui wurde in der Nacht zum 13. Februar 1999 in Guben (Brandenburg) von jungen Rechtsextremisten zu Tode gehetzt.

Ein Fall bleibt unklar

Bereits im Februar 2000 nannte die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der PDS-Fraktion den Tod eines Obdachlosen im niedersächsischen Eschede. Der Mann war am 9. August 1999 von zwei Skinheads mit Springerstiefeln totgetreten worden. Warum es jetzt heißt, dieser Fall sei neu in der Statistik, wurde nicht erklärt.

Das jüngste Zahlenwerk ist offenbar noch nicht das letzte Wort der Behörden. Es sei wahrscheinlich, dass seit 1990 mehr Todesopfer als die jetzt aufgezählten 36 zu beklagen sind, war beim Bundeskriminalamt zu hören. Kritik entzündet sich aber nicht nur an der immer noch großen Differenz zur Liste von Tagesspiegel und "Frankfurter Rundschau". Roland Eckert, Soziologie-Professor in Trier, moniert beispielsweise die mangelnde Berücksichtigung von getöteten Obdachlosen durch die Polizei in den Ländern. Sie liefert dem BKA das Datenmaterial über fast alle rechten Straftaten. Eckert sitzt auch mit Vertretern von Behörden in einer Kommission, die einen "Periodischen Sicherheitsbericht" zur Lage in der Bundesrepublik erarbeiten soll. Das Papier sollte Ende des Jahres erscheinen, doch gibt es Verzögerungen. In welcher Weise der Tod des kleinen Joseph eines Tages in Statistiken vermerkt wird, weiß noch niemand.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false