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Regisseur und Drehbuchautor Raoul Peck.

© Lydie Sipa

Regisseur und Drehbuchautor Raoul Peck: „Meinungen sind heutzutage wichtiger als Wissen“

Raoul Peck zeigt auf der Berlinale zwei Filme: einen über Karl Marx und einen über den Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin. Beide, sagt er im Interview, sind plötzlich wieder aktuell.

Von Andreas Busche

Mr. Peck, Sie sind auf der Berlinale mit zwei Filmen vertreten, dem Spielfilm „Der junge Karl Marx“ und dem Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“ über den Schriftsteller James Baldwin, mit dem Sie auch für den Oscar nominiert sind. Ist es Zufall, dass Sie an diesen thematisch hochaktuellen Filmen nahezu gleichzeitig gearbeitet haben?

Ich trage diese beiden Projekte seit zehn Jahren mit mir herum. Ich verspüre schon lange das Bedürfnis, wieder an die Quellen zurückzukehren, die mich in meiner Jugend geprägt haben. Meine Biografie verbindet Marx und Baldwin, sie haben mir im Alter von 17, 18 den Zustand der Welt erklärt. Heutzutage sind Meinungen wichtiger als Wissen. Alle Meinungen stehen gleichwertig nebeneinander. Die Meinung eines Wissenschaftlers, der 40 Jahre zum Klimawandel geforscht hat, gilt genauso viel wie die Meinung eines Herrn Trump. Mein Anspruch besteht darin, zurück an die Quellen zu gehen. Der Film beruht auf Fakten. Zur Diskussion steht höchstens meine Auslegung der Geschichte.

Wie kommt es, dass Sie nach zwei Filmen, die Sie in Ihrer Heimat Haiti gedreht haben, in diesen europäischen Produktionszusammenhängen arbeiten?

Das hat wohl mit meiner Lebensgeschichte zu tun. Ich habe mich immer als eine Art Guerilla-Filmemacher gesehen, der flexibel und wendig bleiben musste. Auf diese Weise konnte ich in einer Industrie überleben, in der es die Art von Filmen, die ich mache, sehr schwer hat. Also war ich ich immer auf Alliierte angewiesen, um meine Filme zu realisieren. Mein erster Spielfilm „Der Mann auf dem Quai“ entstand in Deutschland, eine Produktion für „Das kleine Fernsehspiel“. Als ich meinen zweiten Film hier drehen wollte, schlug die Zensur zu, so dass ich auswandern musste, um weiterdrehen zu können.

Das war Ihr Film über den türkischen Asylbewerber Cemal Altun, der sich aufgrund seiner drohenden Abschiebung das Leben genommen hatte?

Genau. Mir wurde damals vom Bundesministerium des Inneren klargemacht, dass wir für diesen Film keine Förderung bekommen würden, was meiner Ansicht nach eine Form von politischer Zensur darstellte. Ich musste also früh lernen, in verschiedenen Ländern zu leben, um dort auch arbeiten zu können.

Warum haben Sie sich auf die frühen Jahre von Karl Marx konzentriert?

Der junge Marx war für mich interessant, weil man an der Figur einen Prozess verfolgen, die Entstehung einer Denkweise beobachten kann. Das finde ich genauso wichtig wie das Resultat selbst, „Das Kapital“. Die zehn Jahre, die der Film zeigt, sind die Etappen, die Marx zurückgelegt hat, angefangen bei seiner Kritik an der Religion über die Kritik an der Philosophie bis hin zur Kritik an der Wirtschaft und der Geschichte. Der Film handelt von drei jungen Europäern in einer Phase der gesellschaftlichen Depression. Marx und Engels waren damals erst Mitte 20 und standen bereits im Kontakt mit der intellektuellen Elite Europas – Leuten wie Pierre-Joseph Proudhon, Mikhail Bakunin und Ludwig Feuerbach.

Hatten Sie das Gefühl, dass man den späten Marx eher gegen den Missbrauch seiner Idee verteidigen müsste?

Die Geschichte des alten Marx wäre ein ganz anderer Film geworden. Ich hätte einen anderen Schwerpunkt setzen müssen, denn Marx wurde lange mit historischen Entwicklungen assoziiert, die sich nicht so leicht erklären lassen. Wir leben ohnehin in einer Welt der Missverständnisse. So viele Aspekte der Geschichte sind nie aufgearbeitet worden, bedenkt man nur das Verhältnis von BRD und DDR. Wenn ich versucht hätte zu erzählen, was in den letzten 60 Jahren passiert ist, wie der Marxismus verfälscht wurde, die Entwicklung von der Oktoberrevolution 1917 bis zu den Massakern in Kambodscha unter Pol Pot: Das könnte ein einzelner Film gar nicht schultern.

Ihr Film thematisiert nicht Marx’ antisemitische Tendenzen.

Die Diskussionen um Marx’ angeblichen Antisemitismus werden sehr polemisch geführt und basieren auf einem Mangel an Kenntnissen über die damalige Zeit. Ganz abgesehen davon, dass Marx selbst aus einer alten jüdischen Familie stammte. Im Drehbuch gab es eine Szene mit einem Rabbi, die es nicht in den Film geschafft hat. Marx und der Rabbiner diskutieren über den Judaismus. Marx war allen Religionen gegenüber kritisch eingestellt. Das Judentum war für Marx keine biologische Kategorie.

Im Film spielt Jenny Marx eine gleichberechtigte Hauptrolle.

Ich wollte damit ihre Rolle, die ihr bei der Entstehung des Manifests zusteht, würdigen. Jenny Marx entstammte einer preußischen Adelsfamilie, sie gab durch ihre Ehe mit dem Juden Karl Marx ihre gesellschaftliche Stellung auf. Historiker wollten ihre Rolle später darauf reduzieren, dass sie zu den wenigen gehörte, die seine Handschrift lesen konnten. Dieser Umstand hat aber eben auch ganz wesentlich damit zu tun, dass sie seine Gedanken und die Diskussionen mit Engels kannte. Wir beziehen uns im Film auf die damaligen Korrespondenzen: Originaltexte, keine Sekundärliteratur über Marx.

Für einen Film, der von eine jugendlichen Aufbruchsstimmung erzählt, ist der Film sehr dialoglastig. Warum geben Sie dem Text so viel Raum?

Ich wollte zeigen, wie damals geredet wurde. Es geht ja nicht nur um die Texte, sondern auch um den Diskurs der damaligen Zeit, das Methodische in der Analyse der Gesellschaft. Die Art, sich auszudrücken, jede Formulierung war wichtig. Marx und Engels hatten im Reden eine große Disziplin entwickelt. Natürlich muss man bei einem Film aufpassen, dass er nicht zu diskurslastig wird. Die Herausforderung bestand darin, dieses komplexe Denken zu zeigen. Und das war damals eben alles andere als dogmatisch.

Ähnlich gehen Sie auch bei „I Am Not Your Negro“ vor. Sie geben der Sprache und der Stimme James Baldwins viel Raum. Man soll sein Denken über die Originaltexte verstehen.

Ich kam über die Politik zum Kino. Es war nie mein Traum, Filmemacher zu werden. Aber ich musste feststellen, dass meine Geschichte als Schwarzer nirgendwo erzählt wird. Ich habe es daher als meine Verantwortung betrachtet, diesen Zustand zu ändern. Aus diesem Grund kehre ich zu den Originaltexten zurück – bevor andere begannen, sie zu interpretieren oder zu verfälschen. Beide, Marx und Baldwin, sind lange aus der Mode gewesen. Heute erzählen sie wieder etwas über die Gegenwart.

Über Patrice Lumumba haben Sie einen Dokumentar- und einen Spielfilm gedreht.

Beim Spielfilm ging es mir darum, die Geschichte einem möglichst großen Publikum zu erzählen. Der Dokumentarfilm war persönlicher, er hatte viel mit meinem eigenen Leben und dem meiner Familie im Kongo zu tun. Über Baldwin wollte ich ursprünglich einen Spielfilm machen, aber ich fand keinen richtigen Zugang.

Ist „Der junge Karl Marx“ Ihre Vorstellung eines gegenwärtigen revolutionären Kinos? Viel Reden?

Ich möchte meinen Filmen keine Labels geben. Ich versuche lediglich, die Kämpfe im Moment zu rekonstruieren. Wenn ich zehn Jahre meines Lebens mit einem Film verbringe, ist es mein Anspruch, dass er für gewisse Grundwerte eintritt. „Der junge Karl Marx“ sollte kein altmodischer Film werden, sondern einer, der noch in 50 Jahren relevant ist.

„Der junge Karl Marx“ sollte also kein revolutionärer Film werden, obwohl die Geschichte in eine Revolution mündet?

Ich finde es wichtiger, Ruhe zu bewahren. Ich möchte einen Dialog anstoßen, jegliche Ideologie, alle Vorurteile aus dem Spiel nehmen. Darin sehe ich die Grundlage für eine vernünftige Diskussion.

„Der junge Karl Marx“: 13.2., 18.30 (Odeon), 21.30 Uhr (HdBF). „I Am Not Your Negro“: 15.2., 17 Uhr (International), 16.2., 11 Uhr (Cinestar 7), 17.2., 14.30 Uhr (Colosseum), 19.2., 14.30 Uhr (Zoo Palast).

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