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Die Regisseurin Aslı Özge ist im Panorama mit "Auf einmal" zu sehen.

© Emre Erkmen

Regisseurin Aslı Özge: Absturz der Wohlstandskinder

Ein Film noir im Sauerland: „Auf einmal“ von Aslı Özge ist im Berlinale Panorama zu sehen. Eine Begegnung mit der Regisseurin.

Das Sauerland taugt zum Schauplatz eines Film noir, wenn man es wie Aslı Özge sieht. Ausgerechnet Altena, eine gemütliche, von Wald umgebene Kleinstadt, wird in ihrem Film „Auf einmal“ zur Falle für Karsten (Sebastian Hülk), einen jungen Bankangestellten, Ehemann und Mittelpunkt einer Clique alteingesessener Wohlstandskinder. Anstelle eines Stereotypenstücks mit flachem Regionalkrimi-Flair erzählt die seit 15 Jahren in Berlin und Istanbul lebende Regisseurin die Geschichte eines mysteriösen Todesfalls und seiner Konsequenzen als dunklen Thriller, brüchige Beziehungsgeschichte und Sittenbild der Leistungsträger-Generation.

Karsten Böhm gerät nach dem Tod eines ihm unbekannten Partygasts in seiner Wohnung in Panik und reagiert so, dass die Polizei seine Unschuldsbehauptung in Zweifel zieht. Die fremde junge Frau, eine Russlanddeutsche, war mit der Clique gekommen und als Letzte geblieben, aber Karstens Versuche, die Umstände ihres Zusammenbruchs im kleinen Kreis aufzuklären, befördern eher das Misstrauen der Freunde. Laura (Julia Jentsch), seine von einer Geschäftsreise heimkehrende Frau, rückt von ihm ab, ihre beste Freundin Judith (Luise Heyer) unterstellt ihm einen Seitensprung, sein Vater (Hanns Zischler) besorgt einen Anwalt, um den Ruf der angesehenen Familie mit allen Mitteln wiederherzustellen. Es wird einsam um den verwöhnten Spross, als der Witwer der Verstorbenen Klage einreicht und der örtliche Bankchef den Verdächtigen in ein Hinterhofbüro verbannt.

Was für ein Image fordert die Gesellschaft von uns?

Aslı Özges erste Filme „Men on the Bridge“ und „Lifelong“ erzählten fragile Beziehungsgeschichten über die Schicht westlich orientierter Mittdreißiger in Istanbul. Den Anstoß zu ihrem neuen Werk gab ursprünglich auch ein ähnlich rätselhafter, Ressentiments auslösender Todesfall in ihrer Heimatstadt. Im Gespräch rekapituliert sie die Idee ihres Drehbuchs, das keine simple moralische Lektion zum Thema Vorverurteilung werden sollte, sondern grundsätzliche Fragen nach unserer Befangenheit in Normen aufwirft: „Mich interessiert, was es für ein Image ist, das die Gesellschaft von uns fordert, und was wir tun, um es zu schützen. Deshalb erzähle ich nicht nur eine private Geschichte über die Hauptfigur Karsten, sondern auch, wie die Mechanismen im Kern des Systems um ihn herum funktionieren, zum Beispiel in der Familie, der Geschäftswelt, Politik, Kirche, Polizei und dem Rechtsstaat.“

Freundliche Neugier und illusionslose Skepsis durchkreuzen sich in Aslı Özges Blick auf die ihr vertrauten und doch fremden deutschen Kleinstädter des Films. Die Stadt Altena und ihr Versuch, mit einem Erlebnisaufzug zur mittelalterlichen Burg neue Geschäftsideen zu entwickeln, geben nicht nur die Staffage her, sondern liefern in stilsicher ausgewählten Details die Zutaten zum Topos einer Generation, die sich mangels eigener Perspektive nicht aus dem Wohlstandsmilieu des vergangenen Jahrhunderts löst und sich in deren Zwängen verstrickt.

Aslı Özge sucht nicht die monströse Seite ihrer Figuren und zieht ihr Publikum in ein spannendes Wechselspiel „guter“ und „schlechter“ Eigenschaften. „Ich distanziere mich nicht von ihnen, um sie als verwöhnte Mittelstandskinder zu kritisieren. Karsten wurde alles gegeben, ohne dass er darum kämpfen musste, er kommt aus gutem Hause und hat alle angebotenen Vorteile konformistisch angenommen. Auf einmal sieht er die Gefahr, alles zu verlieren, nachdem er einen Fehler gemacht hat, und er erlebt, wie fragil alles ist. Für mich ist Karsten ein Opfer des Systems.“

Mit Aslı Özge beginnt ein anderes Kino

„Auf einmal“ ist spannendes neues Kino, das den sozialen Kosmos Deutschland am Modell einer Kleinstadt unter die Lupe nimmt und eine universelle Parabel entwirft. Aber die soziologische Stimmigkeit führt nicht in einen „Themenabend“, die Regisseurin setzt ihre Handschrift ein, um in ausgefeilt kadrierten Bildern und einer besonderen Farbdramaturgie (Kein Blau, nirgends!) die himmelferne Enge der Verhältnisse zu beleuchten. Nicht zuletzt ist die ungefällige Introvertiertheit ihres Hauptdarstellers Sebastian Hülk eine Entdeckung. Aslı Özge weiß, wie sie die feinen Regungen verdrängter Gefühle in der Arbeit mit ihrem Ensemble sichtbar machen kann: „Ich habe ein Faible dafür, Überraschungsmomente am Set einzubinden. Die Schauspieler bekommen von mir kein komplettes Drehbuch. Sie müssen ihren eigenen Text lernen und wissen das, was ihre Figuren wissen, aber nicht mehr. Damit konnte ich am Set spontane und authentische Reaktionen von ihnen bekommen. Wichtig dafür sind auch intensive Proben mit den Schauspielern, in denen ich eine Vergangenheit zwischen den Charakteren baue.“

„Auf einmal“ ist überraschend anders als das „Kino des zweiten Blicks“, das Fatih Akin den hier geborenen deutsch-türkischen Filmemachern zuschreibt. Mit Aslı Özge beginnt ein anderes Kino. Ihr Protagonist schert sich nicht darum, dem Publikum leichte Identifikation anzubieten, sondern nimmt Rache auf die Art, die seine Umgebung versteht.

12.2., 12.30 Uhr (Cinemaxx 7), 13.2., 14 Uhr (Cubix 9), 14.2., 9.30 Uhr (Cinemaxx 8), 18.2., 21.30 Uhr (Zoo Palast 1), 19.2., 12.30 Uhr (Cinemaxx 7)

Aslı Özge kam 1975 in Istanbul zur Welt. In ihrem Debütfilm "Men in the Bridge" (2009) erzählte sie von Männern aus den Vororten Istanbuls, die jeden Tag zum Arbeiten in die Stadt kommen. Seit 15 Jahren lebt sie in Berlin.

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