zum Hauptinhalt
Vor 25 Jahren, am 24. Juni 1995, zeigten Christo und Jeanne-Claude ihren verhüllten Reichstag der Öffentlichkeit.

© dpa/picture alliance

Reichtstagsverhüllung: Die unerhörte Leichtigkeit des Steins

Das erste Sommermärchen in der Hauptstadt: Vor 15 Jahren verhüllten Christo und Jeanne-Claude den Reichstag. Vermutlich begann erst mit diesem Spektakel Berlins Aufschwung zu einem weltweit führenden Touristenziel.

Es schien, als sei in diesen Sommertagen 1995 das Versprechen des Mauerfalls eingelöst worden. Der Reichstag verschwand hinter den Stoffbahnen, die Christo und seine Frau Jeanne-Claude für dieses Weltereignis maßgeschneidert hatten – und an seiner Stelle erschien das fröhliche, geeinte, niemanden mehr bedrohende Deutschland. Erneut schauten die meisten Völker der Welt auf Berlin, aber diesmal nicht, weil sie stellvertretend der Geiselnahme durch die Bösen trotzte, sondern weil sie sich ein düsteres Symbol ihrer Geschichte spielerisch, gar ironisch aneignete. Ihr gelang damit etwas, was als „Vergangenheitsbewältigung“ seit dem zweiten Weltkrieg oft den Makel der Verdrängung und Verklemmung zu tragen schien.

15 Jahre ist dieses Sommermärchen jetzt her, und in der Rückschau wird mit zunehmendem Abstand deutlicher, dass damals ein Knoten geplatzt ist und der Weg frei wurde für friedliche Großveranstaltungen wie die Fanmeilen und Millionenfeten am Brandenburger Tor. Das vereinte Deutschland hatte sich erstmals als spielerisch, tolerant, zivil gezeigt, und die spanische Zeitung „El Pais“ analysierte, Christo habe den Grundstein gelegt für ein Deutschland, „das nicht mehr ständig mit zusammengebissenen Zähnen durch die Welt geht“.

Als die Verpackung fertig war, geschah eine Art Wunder – der Zauber der Wahrnehmung fegte die massive Vorab-Kritik hinweg. Eben noch war das Ereignis geprägt durch eine quälende Debatte, einen Riss, der sich durch Deutschland und seine Parteien zog. Die Repräsentanten der alten Ordnung, voran Kanzler Kohl, wehrten den Plan als unnütze PR-Aktion ab. „Ich habe den verhüllten Reichstag nicht besichtigt“, sagte Kohl, der letzte Widerständler, noch auf dem Höhepunkt des Andrangs, „und ich habe auch nicht die Absicht, es zu tun." Der nationalkonservative Wolfgang Schäuble warnte in der großen Bundestagsdebatte zuvor griesgrämig vor Experimenten und fürchtete, ein Symbol deutscher Geschichte nähme Schaden. Aber auch sittenstrenge, eher linke Republikaner wie Burkhard Hirsch (FDP) profilierten sich als Bedenkenträger: „Wenn Herr Christo vorschlagen würde“, sagte Hirsch, „das Capitol, das Parlament Building oder die Assemblée Nationale einzupacken, dann würde ein Sturm der öffentlichen Entrüstung ihn und das Projekt hinwegfegen."

Auf der Seite der Spaßfraktion stand die unermüdlich werbende Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, für die die Verhüllung ein riesiger Erfolg wurde – und das stand schon unmittelbar nach der Freigabe am 23. Juni fest. Erst kamen skeptische Berliner und blieben fasziniert vom Abendpicknick bis zum Frühstück, dann folgten ihre Gäste, Amerikaner im Freizeitkostüm, festlich aufgetakelte Russen, indische Meditationskünstler, nigerianische Trommler, Schulklassen aus halb Europa. Selbst Künstler, die das Spektakel vorher als anspruchslos und ästhetisch dürftig fundiert abgelehnt hatten, wandelten sich zu Süchtigen, graue Büromenschen warfen das Sakko auf die Wiese und kippten alle Termine, die sie nicht gleich vor den Reichstag verlegen konnten.

Ein Woodstock-Gefühl überzog die Berliner Mitte, nur, dass das Wetter entschieden besser war und die Faszination längst nicht auf eine Nation von Hippies beschränkt blieb. Multikulti funktionierte für einen Sommer, es benötigte nur den Katalysator, als der der sonst so düstere Wallot-Bau in seiner hell leuchtenden Hülle fungierte. 70 Prozent der Deutschen hatten in einer Umfrage kurz vor Beginn die Verfremdung des Hohen Hauses abgelehnt - davon war nichts mehr zu spüren, als der Boom begann. Und als der WDR dann für ein Streitgespräch Verhüllungsgegner suchte, fand sich kein einziger Prominenter mehr bereit, öffentlich den Spielverderber zu geben.

Die Künstler, die für dieses Projekt 20 Jahre Klinkenputzen hinter sich gebracht hatten, standen lächelnd im Mittelpunkt. Als der Tagesspiegel seine Leser einlud, sich von Christo und Jeanne- Claude Plakate signieren zu lassen, erwuchs am Vorabend eine kleine Zeltstadt vor dem Reichstag; früh um fünf tauchten die beiden auf und wurden von etwa 15000 Menschen und deren grenzenlos entspannter Geduld begrüßt. Legendär ist Jeanne-Claudes Entschuldigungszettel für eine Schülerin, die den Unterrichtsbeginn verpasste: „Anna kommt zu spät zur Schule. Sie hat mich am Reichstag besucht.“

Stählern blauer, bisweilen von dekorativen Wolkenbergen verhängter Himmel bestimmt die Bilder, die um die Welt gingen, und vor diesem Himmel wimmelt es von Kleinflugzeugen, Hubschraubern, sogar Verkehrsflugzeuge riskierten einen Ausbruch aus den fixierten Luftstraßen, um den Passagieren das Spektakel in ganzer Schönheit zu zeigen.

Skeptiker gab es nicht mehr, allenfalls Uninteressierte. Doch auch ihre Zahl schrumpfte von Tag zu Tag. Unter den Berlinern gehörte es alsbald zum Pflichtprogramm, eine Nacht auf der Wiese zu verbringen oder doch wenigstens einmal dort zu frühstücken, sehr früh, vor der Arbeit. Wer konnte, schaute immer mal wieder vorbei, mittags, abends, und genoss den eigenartigen Farbwechsel auf den mit Metall bedampften Stoffbahnen, je nach Lichteinfall, Wetter und Tageszeit gleißendes Silber oder pastellig abgetöntes Rosa.

Drei Millionen Besucher waren optimistisch erwartet worden, etwa fünf Millionen kamen und füllten die Hotels bis auf das letzte Bett; vermutlich begann erst mit diesem Spektakel der Aufschwung Berlins zu einem weltweit führenden Touristenziel. In der Innenstadt bröckelte derweil die Betonfront der Ladenschluss-Hüter, Geschäfte durften bis 22 Uhr und am Wochenende öffnen - auch auf solchen Nebenschauplätzen setzte der „Wrapped Reichstag“ die Dinge in Bewegung.

Und das alles geschah im Jahre 1995, einem Jahr der bleischweren Erinnerung. 50 Jahre Nürnberger Prozesse, 50 Jahre Hiroshima, 50 Jahre Befreiung, 50 Jahre Uno. Der verpackte Reichstag beglückte die Menschen „inmitten all dieser durch die Pietät aufgezwungenen Manifestationen der kollektiven Buße, bei denen uns der saure Moralschweiß von den Stirnen tropfte und gegen deren Übermaß sich alles in uns sperrte und sträubte", wie der Schriftsteller und Regisseur Benjamin Korn in der „Zeit“ schrieb. Er stellte sich vor, eine Zauberhand würde die Hülle eines Tages abreißen, „und darunter wäre, einem Kaninchen gleich, das ganze Gebäude mitsamt hundert Jahren deutscher Vergangenheit entschwunden.“

1995 war auch das Jahr, in dem das ewig umstrittene Holocaust-Mahnmal erst einmal scheiterte, und zumal in diesem Gegensatz von quälendem Misserfolg und leuchtendem Gelingen lag der hohe Reiz der Verhüllung. Ihr folgte die Aktion „The Gates“ im New Yorker Central Park, für die Überspannung des Arkansas River wartet Christo auf die Genehmigung.

Vor wenigen Tagen ist er 75 Jahre alt geworden. Seine Frau Jeanne-Claude starb 2009, 74-jährig, in New York. Die Berliner haben von ihnen das Lächeln gelernt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false