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Kultur: Reise nach Elysium

Berliner Silvesterkonzerte mit Marek Janowski, Daniel Barenboim und Eliahu Inbal

Warum immer wieder die Neunte? Die Sehnsucht der Menschen, mit diesem Werk das alte Jahr zu schließen und das neue froh zu begrüßen, bedeutet Vertrauen in die Musik. Beethoven hält die Spitze unter den Lieblingen des Konzertpublikums. Die Musik aber ist hier Vermittlerin einer idealistischen Vorstellungswelt, sie ist ohne ein Moment äußerster Anstrengung nicht realisierbar. Wir ahnen, weniger durch die Verse Schillers als durch ihre Botschaft und vor allem dank der Musik, dass ein fernes Elysium menschenmöglich sein könnte.

Der erste Besuch führt ins Konzerthaus, wo der Rundfunkchor Berlin und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski ihre so sachliche wie angespannte Interpretation vorführen. Der Zusammenhalt des Orchesters mit seinem Chefdirigenten zeitigt eine Präzision und Klarheit, die den Hörenden Note für Note quasi mitlesen lässt, ohne dass er einer Taschenpartitur bedürfte. Eva-Maria Westbroek, Birgit Remmert, Endrik Wottrich und Franz-Josef Selig sind die Solisten, unter denen der Bassist mit Sensibilität dominiert. Unmittelbarkeit einer Aufführung, die zur Silvestertradition des Orchesters gehört.

Daniel Barenboim zeigt mit den besonders weich am Rand der Stille einsetzenden leeren Quinten zu Beginn der Symphonie, dass er das Exzeptionelle will. Er sucht die von Goethe – trotz seiner Distanzierung zu Beethoven – so genannten unendlichen Schönheiten im Einzelnen, er sucht das Geheimnis, das die Menschen an dieses Werk bindet. Die Vorstellung, dass der völlig ertaubte Komponist die Uraufführung seiner Neunten als Dirigent zu steuern und zu beeinflussen versucht hat, spricht ex negativo für seinen Ausdruckswillen, seinen manisch verteidigten, für die damalige Zeit verstiegenen Anspruch an die Interpretation.

Barenboims Staatskapelle, in der Opernwelt zum wiederholten Mal als Orchester des Jahres ausgezeichnet, nimmt in der Staatsoper den Feierton auf. Der Mischklang entfaltet eigene Farben, Barenboim modelliert im Mittelteil des Scherzos die Melodie der Oboe mit Gesten liebevoller Ornamentik. Er ist mit höchster Konzentration bei der Sache, wie sie der Vielbeschäftige nicht immer erreicht. Die Generalpausen gewinnen dramaturgische Bedeutung, weil in ihrer nie nachlassenden Spannung die Erregtheit des Satzes lebt. Und dann setzt das Adagio ein – Barenboim gehört traditionell zu den Verfechtern der langsamen Wunder der Musik –, als wolle es verweilen ohne Ende. Die zweiten Violinen mit dem zweiten Thema werden gehegt wie die Celli und Bässe im Finale, so dass die Freudenmelodie als Ahnung auftritt, ehe sie Gewissheit wird. Wer wollte einem Chor vorwerfen, dass er perfekt ist? Der Staatsopernchor nimmt die heiklen Höhen der Stelle „Über Sternen muss er wohnen“ so rund und sorglos, dass ein wenig vom Zauber verloren geht. Das Solistenquartett (Anna Samuil, Rosemarie Lang, Burkhard Fritz, Hanno Müller-Brachmann) passt sich an. Orchester und Dirigent aber vollbringen eine Interpretation der unerhörten Augenblicke: ein Stück irdisches Elysium.

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Die musikalische Zukunft 2006 ist vorgezeichnet. Sie heißt: Mozart, Mozart und noch mehr Mozart. Auch bei Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern (Tsp. vom 31. 12./1. 1.). Beim Silvesterkonzert des Berliner Sinfonie-Orchesters im Konzerthaus ist Eliahu Inbal und seinen gut aufgelegten Musikern der Jubel gewiss. Mozart soll glücklich machen, meint der Chefdirigent in seiner „Neujahrsansprache“. Wie Amadeus den niederträchtigen Machenschaften seiner Widersacher die Schönheit seiner Kunst entgegensetzte, so sollen auch wir Musikenthusiasten alles Widrige hinter uns lassen. Die „Figaro“-Ouvertüre gibt dem mit aufmüpfigen Akzenten hinter der quirligen Sechzehntel-Fassade Recht.

Stärker berühren die ernsten Töne: Selten hat man ein so inbrünstig zartes „Dona nobis pacem“ gehört wie vom Ernst Senff Chor zum Schluss der „Krönungsmesse“; Anna Korondi schickt dem die eindringlichsten „Agnus Dei“-Bitten voran. Im Adagio „Et incarnatus est“ vereinigen sich Iris Vermillions silbriger Mezzo, Christian Elsners strahlkräftiger Tenor und Florian Boeschs erdiger Bass mit dem schwebenden Sopran zu klangschöner Homogenität. Hier erreicht auch das Orchester die atmende Schmiegsamkeit, die Inbal in seiner monumentalen Kontrastschärfe gern vernachlässigt. Im Violinkonzert G-Dur verführt vor allem Augustin Dumays kernig-süßer Ton das Orchester zur Klangzärtlichkeit. Dafür lässt die einleitende Haffner-Sinfonie befürchten, dass das Mozart-Jahr vor allem laut werden könnte. Isabel Herzfeld

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