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Reportageliteratur: Asphalt, Autos, Service, Raten

Journal des Staunens: Die beiden russischen Literaten Ilja Ilf und Jewgeni Petrow bereisen 1935 die USA und zeichnen in ihrem Buch "Das eingeschossige Amerika" ein ganz unideologisches Bild des Landes

Zwei sowjetische Autoren reisen Ende 1935 in die USA, um im Verlauf ihres dreimonatigen Aufenthalts Berichte für die heimische „Prawda“ zu schreiben: Das klingt, betrachtet man das Jahr, für sich schon bemerkenswert. Dass die Reiseberichte des Duos Ilja Ilf und Jewgeni Petrow auch noch alles andere als vorgestanzte Ideologie sind, sondern humorvolle, vorurteilsfreie Beobachtungen der amerikanischen Wirklichkeit, die sich in ihren besten Teilen zu gültigen Einsichten verdichten, erstaunt wie die Tatsache, dass das Journal unter dem Titel „Das eingeschossige Amerika“ 75 Jahre auf seine deutsche Veröffentlichung warten musste.

Ilja Ilf (1897–1937) und Jewgeni Petrow (1903–1942) sind keine Unbekannten. Ihre satirischen Romane „Zwölf Stühle“ und „Das goldene Kalb“ gehören seit ihrer Veröffentlichung Anfang der 30er Jahre zum Inventar der russisch-sowjetischen Literatur und fanden international Verbreitung. Ausgerechnet die Reise jedoch blieb in der Schublade, nachdem sie zunächst artikelweise in der „Prawda“, dann verändert als Fotoreportage mit Ilfs Aufnahmen im Intelligenzblatt „Ogonjok“, dann in zwei literarischen Zeitschriften und schließlich 1937 in Buchform publiziert worden war.

Ilf und Petrow begegnen dem Erlebnis der USA mit der Distanz des neugierigen Kindes. Wie anders hätten sie sich der Forderung nach politisch einwandfreien Urteilen entziehen können, zumal der Herausgeber der „Prawda“, Lew Mechlis, einer der ergebensten Gefolgsmänner Stalins war. Das Duo lässt sich von der Wirklichkeit beeindrucken, aber nicht betrügen. Gleich an einem der ersten Tage in New York notieren sie: „Spätnachts kehrten wir in unser Hotel zurück, nicht enttäuscht und nicht begeistert von New York, eher verstört von seinen gewaltigen Dimensionen, seinem Reichtum und seiner Armut.“

Die USA sind für Ilf und Petrow das Land der Gegensätze. Ihre Leser nehmen sie sorgsam an die Hand: „Sehr viele Menschen stellen sich Amerika als das Land der Wolkenkratzer vor, wo Tag und Nacht über und unter der Erde Züge rattern, auf den Straßen Motoren heulen und ständig das Geschrei verzweifelter Börsenmakler ertönt, die zwischen den Wolkenkratzern umherlaufen und mit den permanent fallenden Aktien wedeln. Natürlich gibt es das alles – die Wolkenkratzer, die Hochbahn und die fallenden Aktienkurse. Aber das ist die Welt von New York und Chicago ...“ Die beiden hingegen wissen: „Amerika ist überwiegend ein Land der ein- und zweigeschossigen Häuser. Der größte Teil der Bevölkerung lebt in Kleinstädten.“ Und die sind sie schneller satt, als ihre Reise im bescheidenen Ford, über 10 000 Meilen, von Küste zu Küste und zurück dauert: „Diese farb- und gesichtslose Masse von Backstein, Asphalt, Autos und Reklametafeln ruft beim Reisenden nur Missmut und Enttäuschung hervor.“

Die Enttäuschung indessen hält sich in Grenzen. Immerhin treffen sie auf ihrer Reise den Unternehmer Henry Ford, jedem Sowjetmenschen aufgrund seiner Traktorenlieferungen vertraut, den Schriftsteller Ernest Hemingway und den Filmregisseur Lewis Milestone („Im Westen nichts Neues“). Diese Doppelbödigkeit macht die rund 530 Seiten dieser Ausgabe so lesenswert.

Das Duo entdeckt fortwährend Neues, Positives zumeist, Interessantes immer. Schier unfasslich ist ihm jene uramerikanische Errungenschaft namens „Service“, der sie allein sieben Seiten widmen: „Der Service ist dann gut, wenn er so notwendig und zugleich so unauffällig ist wie die Luft zum Atmen.“

Zusammengehalten werden die 47 Kapitel durch die Figuren des Mr. Adams und seiner Frau Becky – keine reine Erfindungen, denn ein gastfreundliches Ehepaar wenn auch anderen Namens hatte das Duo tatsächlich drei Monate lang chauffiert und und Besichtigungen organisiert. Mr. Adams lobt sein Land, doch nicht ohne Gespür für dessen Schwächen, so dass die beiden Fremden ihre eigene Kritik elegant in die Konversation mit dem rührigen Mr. Adams verpacken können.

Mr. Adams kannte die Sowjetunion übrigens gut. „ Er hatte beim Dneprostroi, dem Wasserkraftwerk am Dnepr, in Stalingrad und Tscheljabinsk gearbeitet“ – mithin an drei Brennpunkten der Industrialisierung des ersten Fünfjahrplans. „Er hatte das Land nicht nur so gesehen, wie es sich seinem Auge bot, sondern wie es gestern gewesen war und wie es morgen sein würde. Er sah es in Bewegung. Dafür hatte er Marx und Lenin studiert, Stalins Reden gelesen und die Prawda abonniert.“

Diese für den heutigen Leser nicht geläufigen Feinheiten hätte eine kundige Einführung vorstellen müssen, anstelle des freundlich-nichtssagenden Vorworts der Schriftstellerin Felicitas Hoppe.

In der Person des Mr. Adams wird erkennbar, in welchem Kontext die Reise überhaupt nur stattfinden konnte. Mr. Adams ist einer der Ingenieure auf der Höhe der stalinistischen Politik, wie sie zu Tausenden die Industrialisierung der frühen 30er Jahre voranbrachten. Nicht über „Produktionsverhältnisse“ schreiben die Reisenden indes, sondern über Konsumgewohnheiten: „Grundlage des Handels in Amerika ist die Ratenzahlung. Eigentum ist für die überwiegende Mehrheit des Volkes eine Fiktion. Der Mensch braucht nur die Arbeit zu verlieren, und schon beginnt er zu begreifen, dass er kein Eigentümer, sondern ein ganz gewöhnlicher Sklave ist wie der Neger, nur mit weißer Haut.“ Kein Wunder, dass das früh formulierte Resümee lautet: „Nein! Amerika ist nicht zu packen!“

Und als eine Art nachträglicher Verbeugung vor der heimischen Leserschaft heißt es: „Während der ganzen Reise ging uns die Sowjetunion nicht aus dem Kopf. Aus der enormen Entfernung, die uns von ihr trennte, sahen wir sie mit besonderer Deutlichkeit. Man muss die kapitalistische Welt gesehen haben, um die Welt des Sozialismus auf neue Weise zu schätzen.“

Ilf und Petrow haben den Sozialismus à la Stalin wohl tatsächlich geschätzt, auch wenn die Veröffentlichung ihrer allabendlich niedergeschriebenen Beobachtungen bereits in die Zeit des „Großen Terrors“ fällt, als jede auch nur vermutete Verbindung zu gleich welchem Ausland das Todesurteil für den Betreffenden bedeuten konnte. Die USA, die die vom Sowjetregime ersehnten diplomatischen Beziehungen 1933 aufgenommen hatten, blieben da aus Respekt zunächst weitgehend unberücksichtigt. Ilja Ilf starb 1937, an Tuberkulose, Jewgeni Petrow als Kriegsberichterstatter 1942 bei einem Flugzeugabsturz, beide jeweils knapp 40 Jahre alt. Ihr USA-Buch ist ein beeindruckendes Zeugnis für das Widerstehen gegen ideologische Zurichtung; man denke im Unterschied nur an die schönfärberischen Reiseberichte über Stalins Sowjetunion, die westliche Schriftsteller zur selben Zeit veröffentlichten. Vor allem aber ist „Das eingeschossige Amerika“ eine ganz und gar bezaubernde Lektüre.

Ilja Ilf / Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Die Andere Bibliothek, Berlin 2012. 2 Bände, 698 S., 70 Fotos, 65 €.

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