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Retro: Holz, Herz und Hand

Analog ist besser: Auch der Pop besinnt sich auf den Originalklang. Ein besonders schönes Retro-Album bringt jetzt der Londoner Sänger Jonathan Jeremiah heraus.

Ganz große Gefühle, dieses Gesetz gilt noch immer im Pop, müssen mit größtmöglicher Streicherbegleitung zelebriert werden. Es ist ein orchestraler Strudel aus glissandierenden Geigen und gedämpften Bläsern, über den ein strahlender Bariton hinwegtanzt wie die untergehende Sonne über die Wellenspitzen eines wogend-bewegten Meeres. Inbrünstig beschwört die Stimme eine ganz besondere Liebe: „And you’re never gonna give me up ’cos I’m never gonna let you down / And you’re never gonna walk away ’cos I’m always gonna be around.“ Verkündet wird da nicht weniger als die Verschmelzung eines „Ich“ und „Du“ zu einem unzertrennlichen „Wir“.

Beim ersten Hören wirkt „Never Gonna“, eine weder an lyrischem Pathos noch an symphonischem Pomp sparende Ballade, wie ein akustisches Déjà-vu-Erlebnis. Ist das vielleicht ein unbekannter Song des walisischen Soul-„Tigers“ Tom Jones aus den späten sechziger Jahren? Oder ein Werk des Zeitlupenbeat-Melancholikers Scott Walker aus einer ungewöhnlich sonnendurchfluteten Phase in den frühen Siebzigern? Alles falsch. „Never Gonna“ gehört zu den Höhepunkten des gerade erschienenen Debütalbums „A Solitary Man“ von Jonathan Jeremiah und stammt aus dem Sommer 2011.

Jeremiah ist ein bekennender Nostalgiker, was bereits der Titel seiner Platte belegt. „Solitary Man“, so hatte bereits Neil Diamond, ein erklärtes Vorbild des Londoner Sängers, 1966 einen seiner frühen Hits genannt. Jeremiah scheint tatsächlich etwas „solitary“, eigenbrötlerisch, zu sein. In Porträts wird gerne erwähnt, dass der „klassische Frauentyp mit Folkie- Touch und Fünf-Tage-Bart“ (dpa) in abgelatschten „Charlie-Chaplin-Schuhen“ (so das Internet-Musikmagazin Monstersandcritics) zum Interview erscheint. „Ich bin kein Freund von Veränderungen, wechsle nicht gerne die Gitarre, nicht mal die Saiten. Die Schuhe gehören auch dazu“, sagt er über sich selbst.

Wie ein Tramp reiste der heute 30-jährige Singer/Songwriter einst coast to coast durch die USA, zwischendurch an Greyhound-Busstationen Song-Ideen notierend. Doch Los Angeles deprimierte ihn, weil er dort von der Love & Peace-Atmosphäre der Sixties nichts mehr vorfand und die Spuren seiner Westcoast-Rock-Idole wie Carole King oder Carly Simon getilgt zu sein schienen. Die Arbeiten an Jeremiahs Album zogen sich dann sieben Jahre hin, auch weil er darauf bestand, es in einem alten Analog-Studio und mit 24 Musikern eines klassisch geschulten Orchesters aufzunehmen.

Um die Studiokosten finanzieren zu können, arbeitete Jeremiah als Sicherheitskraft bei Konzerten in der Wembley Arena, wo sein Vater als Elektriker beschäftigt ist. „Ich habe mir dabei immer vorgestellt, dass eine Nacht genug einbringt, um eine Geigerin zu bezahlen, und die nächste genug für einen Kontrabassisten“, sagt er. Die Geigen hätten auch, wie bei vielen Pop-Aufnahmen inzwischen üblich, aus einem Keyboard oder dem Computer kommen können. Dann hätten sie aber nicht mehr so warm und organisch geklungen.

Und auf den Klang kommt es dem Retro-Fanatiker vor allem an. So trotzt seine Stimme nun im Northern-Soul-Stomper „Heart of Stone“ dem wuchtigen Motown-Rhythmus von Bass und Schlagzeug. In der federnden Liebesschmerz- Ballade „See (It Doesn’t Bother Me)“ spielt sie Pingpong mit den Bossa-Nova- Akkorden einer Akustikgitarre. Und im Lebensbilanzblues „All The Man I’ll Ever Be“ windet sie weit gespreizte Gesangsbögen um die strahlende Phrasierung einer New-Orleans-Trompete. Das Fauchen eines Soul-Shouters oder das Säuseln eines Las-Vegas-Crooners: Jeremiah hat es drauf. In England wurde er für die „Banalität“ (Guardian) seiner Liedzeilen wie „I need a little bit of happiness“ oder „I’d be lost without you baby“ kritisiert. Aber schürfen Liebesergüsse wie „It’s not unusual to find that I’m in love with you“ (Tom Jones) oder „Ooh baby love, I need you“ (The Supremes) tiefer?

Jeremiah scheint mit seiner Musik aus der Zeit gefallen zu sein, andererseits spiegelt sich in ihr ein aktueller Zeitgeist. Denn in einer Ära der Digitalisierung, die Musik auf Knopfdruck abruf- und produzierbar gemacht hat, richtet sich die Sehnsucht auf die vermeintliche Authentizität einer Vergangenheit, als sie noch „von Hand gemacht“ (Reinhard Mey) wurde, von Menschen, die dafür nicht bloß die Tastatur eines Computers beherrschen mussten. Alte holzgetäfelte Musikstudios wie das im ehemaligen DDR-Rundfunkhaus an der Berliner Nalepastraße, das die letzten sechzig Jahre wie in einer Zeitkapsel überstanden hat, werden inzwischen von Stars aus dem In- und Ausland gebucht. Analoge, möglichst noch mit Röhren ausgestattete Tontechnik und retrofuturistisch klingende Instrumente aus der elektronischen Steinzeit wie der Moog-Synthesizer haben Fetisch-Charakter bekommen. Selbst Depeche Mode ersteigerten für ihr letztes Album „Sounds of the Universe“ Vintage-Instrumentarium im Internet, um den Sound ihrer Anfänge rekonstruieren zu können.

Man könnte von einer neuen Originalklang-Bewegung im Pop sprechen, analog zur klassischen Musik, wo Enthusiasten bereits seit längerem Barockmusik auf jahrhundertealten Instrumenten aufführen, bisweilen zu Kerzengeflacker in Schlosssälen. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Erfindung ist der Pop im Stadium seiner Historisierung angekommen. Stilistisch ist seine Formensprache weitgehend ausbuchstabiert, selbst in der elektronischen Abteilung kommt es nach dem Endpunkt Techno nur noch zu Variationen und Bastardisierungen von Untergenres. So suchen immer mehr Musiker den Fortschritt im Rückgriff.

Kitty, Daisy & Lewis beispielsweise, drei Geschwister aus dem Londoner Stadtteil Kentish Town, lassen originalgetreu den Rockabilly der fünfziger Jahre wieder aufleben. Sie treten stilsicher mit Pomade-Frisuren, Steh-Schlagzeug und Twang-Gitarren auf. Mit dem fröhlichen schunkelnden „Messing With My Life“ aus ihrem zweiten Album „Smoking in Heaven“gelang ihnen gerade ein echter Radiohit. Und Rumer, eine Londoner Sängerin mit pakistanischen Wurzeln, huldigt auf ihrer Debüt-CD „Seasons of My Soul“ mit traumwandlerischem Easy-Listening-Soul den Altmeistern Burt Bacharach und Aretha Franklin.

Orthodoxe Rock’n’Roll-Musiker und Neo-Sixties-Bands hat es immer gegeben. Doch erst als Amy Winehouse weltweit mehr als elf Millionen Einheiten ihres auf Motown getrimmten Albums „Back to Black“ absetzte, wurden die Nischenkulturen zum Mainstream-Phänomen. „Unser Sound soll roh und energetisch klingen, nur analoges Equipment kann den wirklich einfangen“, sagen Kitty, Daisy & Lewis. Doch Ewiggestrige sind sie nicht. Das Trio betreibt einen eigenen Videokanal bei YouTube.

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