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Die Schönheit des Banalen. Peter Keetmans "Plastikflaschen" von 1963.

© Stiftung F.C. Gundlach

Retrospektive des Fotografen Peter Keetman: Einer, der Wunder festhielt

Er brachte die flüchtige Schönheit des Marginalen in die feste Form des Bildes. Die Hamburger Deichtorhallen feiern den Fotografen Peter Keetman.

Gartenstühle in der Sonne. Spielende Kinder, die ihre Schlitten auf einen schneeweißen Hügel ziehen. Ein auffliegender Schwarm Krähen, deren Körper vor hellem Himmel zu Tintenspritzern werden. Lauter unbeschwerte Momente. Und dann dieses Foto: Ein Mann sitzt auf einem Schemel, das Gesicht auf dem rechten Knie abgelegt, so dass man nur den Haarschopf sieht. Das linke Bein fehlt, der Stoff des Hosenbeins lugt schlaff unter der Jacke hervor. „Gezeichnet“ hat Wolfgang Reisewitz sein Porträt genannt. 1948 fotografierte er den Kollegen Peter Keetman. Dessen invalider Körper wird zur Skulptur – zur Anklage gegen all das, was die Nationalsozialisten ihm und seiner Generation angetan haben.

Das Bild dokumentiert auch die kulturelle Entwurzelung des Fotografen Keetman, der von 1935 bis 1937 an der Bayerischen Staatslehranstalt für Lichtbildwesen studierte. Schon als Jugendlicher war er von der neusachlichen Ästhetik eines Albert Renger-Patzsch beeindruckt und experimentierte mit der Kamera. Keetmans aktuelle, großartige Retrospektive „Gestaltete Welt – Ein fotografisches Lebenswerk“ in den Hamburger Deichtorhallen hat solche frühen Beispiele parat: etwa die Abstraktion „Wollgras“ von 1935 mit viel schwarzem Teichwasser, weißen Blütenbällchen, einer schrägen Perspektive und angeschnittenen Details, in der sich bereits sein individueller Stil abzeichnet.

Die Zeit nach 1945 wird für ihn zum Neubeginn

Dann kam der Bruch, kamen Keetmans Einsatz als Eisenbahnpionier, seine schwere Verletzung und die Zeit nach 1945, in der sich die jungen deutschen Fotografen alleingelassen sahen. Denn die Vorkriegs-Avantgarde des Bauhauses und anderer progressiver Schulen hatte man ins Exil gezwungen oder umgebracht. Keetman nahm es als Aufforderung zum Neubeginn. Aus seinen Erfahrungen resultiert eine Verletzlichkeit, die sich in vielen Momentaufnahmen äußert – in ihrer Stille, Tiefe oder der Ästhetisierung von Kleinigkeiten. Manchmal scheint er kaum noch von dieser Welt, wenn er Luftblasen im gefrorenen Wasser abbildet oder schlankes Schilf wie eine abstrakte Zeichnung fotografiert. Dann wieder arbeitet Keetman als Auftragsfotograf für Honorar und glänzt mit präzisen Kompositionen, die bis heute gestalterisch hochmodern sind.

Sein Ziel war klar: „Was für jeden Einzelnen für alle Zeit unwiederbringlich und auch unwiederholbar ist, das persönliche Erleben des Augenblicks“, wollte Keetman festhalten. 1953 besuchte er auf eigene Initiative Volkswagen in Wolfsburg und schuf dort jene 150 Aufnahmen, die heute zu den Ikonen der Industriefotografie gehören. Mit einer handlichen Rolleiflex ging der Fotograf in jede Werkhalle, um erst Details und schließlich die fertigen Automobile abzulichten. Immer in Serien, wie die berühmten Käfer-Kolonnen oder gestapelten Kotflügel, die zu Ornamenten aus geformten Blechen werden. 1985 erschien das Fotobuch dazu, es zeigt einen sensiblen Beobachter mit Gespür für surreale Überlagerungen.

Richtig kennen aber lernt man Keetman erst in dieser Ausstellung. Hundert Jahre nach seiner Geburt als Sohn eines wohlhabenden Wuppertaler Bankdirektors und zwei Jahrzehnte nach der letzten großen Werkschau. In Hamburg kooperieren die Stiftung F.C. Gundlach und das Folkwang Museum Essen, das gezielt zum Thema subjektive Fotografie und Material der Gruppe fotoform sammelt – zu der ab 1953 auch Keetman gehörte.

Er schließt mit der Sachlichkeit ab und entwickelt eine eigene Perspektive

Man stritt und kritisierte das Werk der anderen. Die Kriterien waren streng, schließlich ging es um eine neue Ausdrucksform, die den Stillstand der Fotokunst im Nachkriegsdeutschland überwinden wollte. Keetman schloss mit dem sachlichen Blick eines Renger-Patzsch ab und entwickelte seine eigene Perspektive. Nun entstanden Aufnahmen im winterlichen Münchner Prinzregentenstadion, die die schnellen, kreisenden Bewegungen der Eisläufer aufzeichnen. Im Rheinland fotografiert er die beruhigende Ödnis gewellter Äcker, aus Bäumen im Schwarzwald macht er ein gezacktes Panorama milchiger Grauwerte. Ein Karussell auf dem Oktoberfest von 1957 dreht sich ohne Gondeln. Und weil das kreisrunde Dach von oben aus einem Fenster aufgenommen wurde, findet es sein formales Pendant im nebenan aufgestellten Schirmchen des Eisverkäufers.

Keetman folgt dem Leben in der Stadt, zeigt Münchens Wiederaufbau in Langzeitbelichtungen, ein Huhn zwischen fliegender Wäsche an der Leine und Insekten im Scheinwerferlicht als Liniengewirr. Große Themen wie Neubauprojekte in der lange vom Krieg versehrten Stadt – wo er einen Mann auf dem Balkon so inszeniert, dass der ganz einsam in der Betonlandschaft steht – haben den 2005 verstorbenen Fotografen ebenso fasziniert wie Mikrokosmen, Strukturen und Abstraktionen.

Seine Bilder deklinieren das Vokabular der Fotografie

Ähnlich ordnet nun die Ausstellung das stets schwarzweiße Werk, durch das man staunend läuft. Keetmans Bilder deklinieren das ganze Vokabular der Fotografie. Spiegelungen, zerspringende Wassertropfen, Serielles, poetische Verwischungen und andere Verfremdungen. Beliebigkeit ist dem Werk dennoch fremd, Keetman wandert souverän zurück zu den Anfängen der experimentellen Fotografie und verknüpft sie mit der eigenen Erfahrungswelt. Der Katalog nennt ihn einen „bahnbrechenden Fotografen der 50er und 60er Jahre“. Das Lob ließe sich ohne Weiteres bis in die Gegenwart ausdehnen.

„Wir sind – ob wir das nun zur Kenntnis nehmen oder nicht – von einer Welt voller gesetzmäßiger Wunder umgeben“, war Peter Keetman überzeugt. Tatsächlich macht er sichtbar, was eigentlich unmöglich ist: Der Fotograf bringt die flüchtige Schönheit des Marginalen in die feste Form eines Bildes.

Deichtorhallen Hamburg, bis 12. Februar, Di-So 11-18 Uhr. Der im Steidl-Verlag erschienene Katalog kostet 48 €.

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