zum Hauptinhalt
Ahmed Bouanani bei den Dreharbeiten zu seinem Film "Tarfaya Aw Masseerat Sha'erim" im Jahr 1966.

© Berlinale

Retrospektive von Ahmed Bouanani im Forum: Mythen, Gewalt und Machtlosigkeit

Der marokkanische Regisseur kam in den 70ern über das Archiv zum Filmemachen und thematisierte die brutale Kolonialgeschichte. Das Forum widmet ihm eine Retrospektive.

Der berühmteste marokkanische Film spielt nicht in Marokko: „Casablanca“ (1942) ist eine Produktion der Warner Brothers, komplett auf dem Studiogelände in Burbank, Kalifornien, gedreht. Damals dachte man in Marokko selbst noch nicht ans Filmemachen, sondern erst 20 Jahre später, als die ersten marokkanischen Absolventen der französischen Filmhochschule IDHEC in ihre Heimat zurückkehrten.

Und so drehten sie 1968 ihr eigenes „Casablanca“, ebenfalls in elegantem Schwarz-Weiß: Zum gleichmäßigen Sound rollender Wellen beginnt der Alltag in der weißen Stadt. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, aber Milchmänner, Busfahrer und Straßenfeger machen sich ans Werk, im ersten Tageslicht gehen Kinder zur Schule, stellen Kellner Tische aufs Trottoir. Wenig später strahlt die Sonne bereits grell, die Stadt ist erwacht, der Verkehr nimmt Fahrt auf, drängender Trommelwirbel begleitet das Treiben. Die Montage des Films nimmt den Rhythmus des urbanen Alltags auf, die Tonspur kommentiert. Das Allererstaunlichste ist vielleicht, dass Casablanca sich als durch und durch moderne Stadt in Architektur und Mode präsentiert, was eine coole Jazz-Einspielung zu bestätigen scheint. „Six et Douze“ heißt dieser wunderbare Kurzfilm über das Stadtleben zwischen 6 und 12 Uhr, ein Gemeinschaftswerk von drei jungen, ambitionierten Regisseuren, die das marokkanische Kino neu erfinden wollten.

Er kam über das Archiv zum Filmemachen

Ahmed Bouanani, dem der Film nachträglich zugeschrieben wird, gilt eine kleine Retrospektive im Forum. Allerdings geht es dabei weniger darum, das Werk eines einzelnen Regisseurs zu isolieren, sondern vielmehr um eine vergnügliche Entdeckungsreise zu den Anfängen der postkolonialen marokkanischen Filmgeschichte. Spielfilme gab es dort nämlich bis 1970 kaum, aber Wochenschauen, die das 1944 gegründete Centre Cinématographique Marocain produzierte. Es unterstand dem Innenministerium und hatte die Aufgabe, die Aktivitäten von Regierung und Hof zu dokumentieren. Gezeigt wurden diese Kurzfilme in Kinos als Beiprogramm zu den meist aus Ägypten stammenden Spielfilmen. Der 1938 geborene, politisch linke Ahmed Bouanani war dort erst als Cutter und dann als Archivar angestellt und begann bald, aus vorgefundenem Material eigene Filme zu kompilieren.

So entstand 1971 „Mémoire 14“: eine Aufarbeitung der Geschichte Marokkos von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, eine blutige Geschichte, wie man ahnt. Großaufnahmen von Gesichtern sehr alter Leute scheinen zu bezeugen, dass sich historische Vorgänge wiederholen: Friedliche Szenen vom sommerlichen Strand, von Sportplätzen, von Hafen- und Landarbeitern wechseln ab mit Aufmärschen und kämpfenden Truppen in Uniform, die wie eine riesige Walze alles unter sich begraben. Avanciert auch hier die Tonspur, auf die Ahmed Bouanani besondere Mühe verwendet: eine Montage aus Geräusch, Lärm, Stimmen, die Chaos und Angst signalisiert und von der Rezitation eines Gedichts unterbrochen wird. Den im Original über zwei Stunden lange Film hat die Zensur auf ein 24-minütiges Fragment gekürzt.

Er war fasziniert von der Geschichte und oralen Kultur seines Landes

Bouanani, der 2011 starb, war fasziniert von der Geschichte und oralen Kultur seines Landes und traumatisiert durch den gewaltsamen Tod seines Vaters während der letzten Tage der Kolonialzeit. Seine Filme sind geprägt von Mythen und Gewalt und von einer eindeutigen Identifikation mit den Machtlosen.

Der erste Spielfilm Bouananis entstand im Kollektiv mit zwei Kollegen: „Traces“ (1970) erzählt vom armen Waisenjungen Messaoud, den es aus der Stadt aufs Land verschlägt. Seine Adoption aus dem Waisenhaus, das mit einem pädagogisch fortschrittlichen Direktor als Hort der Moderne vorgestellt wird, ist kein Glück, wie sich bald erweist. Sein Vater ist ein strenger, koranfester Mann, der seinen Adoptivsohn wegen kleiner Vergehen misshandelt. Die schöne, ein wenig kokette Mutter kann Messaoud nicht beschützen, nur ein wenig trösten. „Traces“ zeigt die archaische Grausamkeit der männlichen Landbewohner gegenüber Mensch und Tier, und wie sie entsteht. Der erwachsene Messaoud wird zuerst Schausteller, dann Dieb, schließlich Ziegenhirt, aber seinen Wurzeln entkommt er nicht. „Traces“ enthält viele Arbeits- und Alltagsszenen und ist durchweg an Originalschauplätzen gedreht, deshalb hat man häufig den Eindruck, es handele sich um einen weiteren Dokumentarfilm.

Nach „Traces“ zerstritt sich das Kollektiv, weil einer allein allen Ruhm für sich beanspruchte, und so verwirklichte Bouanani erst ein Jahrzehnt später seinen ersten eigenen Spielfilm: „The Mirage“ (1980) ist ein surrealistisches Werk zwischen Burleske und Sozialkritik, und da zeigt sich dann doch, dass man als Westeuropäer nicht hinreichend ausgerüstet ist, um die visuellen Codes der nordafrikanischen Filmkultur zu entschlüsseln. Ohnehin stellt man beim Verfolgen dieser Reihe fest, dass die marokkanische Realität der 60er und 70er interessant genug ist, um eine Spielfilmhandlung nicht zu vermissen.

Täglich 14 Uhr (Delphi) und noch bis 15.2., 22.30 Uhr (Arsenal)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false