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Rettungsschirm: Zahle und herrsche

Ob wir wollen oder nicht? Der Schriftsteller Peter Schneider sieht Deutschland in einer neuen, ungewohnten neoimperialen Rolle in Europa.

Man sollte sich das noch einmal vor Augen halten: Binnen weniger Wochen wurde der ESM von 500 Milliarden Euro auf 700 Milliarden und dann noch einmal auf 800 Milliarden aufgestockt. Das Kürzel ESM, das dem Bürger meist mit dem unverdächtigen Wort „Schirm“ übersetzt wird – ein Utensil, das man bei Rossmann für weniger als zehn Euro erwerben kann – steht für eine Veranstaltung namens „Europäischer Stabilitätsmechanismus“. Die „Süddeutsche Zeitung“ rechnete ihren Lesern vor, dass die Deutschen mit diesem neuen „Schirm“ Bürgschaften für rund 400 Milliarden mit einer Laufzeit von 30 Jahren übernommen haben. Die italienische Zeitung „La Repubblica“ schrieb, die neuen Garantien würden Deutschland in eine neue Rolle katapultieren. Ob Deutschland es wolle oder nicht (und wahrscheinlich wolle es eher nicht!), es sei auf dem Weg, eine „neoimperiale Macht“ in Europa zu werden. Das Prinzip dieser neuen Macht sei nicht mehr das bekannte „Divide et impera!“ (Teile und herrsche). Sondern: „Zahle und herrsche!“

Und die Deutschen, die diese gewaltigen Bürgschaften tragen, haben sie reagiert? Haben sie gegen Angela Merkel und ihren Finanzminister aufgemuckt, die noch vor kaum zwei Jahren versprachen, Deutschland werde keinesfalls für die griechischen Schulden zahlen? Wie groß war die Empörung – und wie viel ist aus den läppischen, damals erforderlichen 20 oder 30 Milliarden inzwischen geworden! Aber jetzt: Stille im Land. Die Bürger verhalten sich, als hätten sie ihr Leben mit der Lektüre von Sophokles und Euripides verbracht, in deren Tragödien die Unentrinnbarkeit des Schicksals zelebriert wird. Einige trösten sich mit der Rhetorik des Kalten Krieges: Am Ende diene der unaufhaltsam wachsende ESM – wie die atomare Abschreckung – dem Zweck, diese Waffen nie einsetzen zu müssen. Frank-Walter Steinmeier fand in der Debatte über den ESM eine einprägsame Formulierung: Die Kanzlerin habe ihre roten Linien in Sachen Aufstockung so oft durchbrochen, dass aus diesen Linien inzwischen eine Wanderdüne geworden sei. Aber eine offensive Strategie gegen die Taktik der Vernebelung ließ er vermissen.

Das Problem für die Opposition gegenüber einer Kanzlerin, die ihre Versprechen von gestern jeden zweiten Tag umwirft, besteht darin, dass sie ihr immer nur Wortbruch und Halbherzigkeit vorwerfen kann. Aber das interessiert die Mehrheit der Wähler nicht wirklich. Für sie zählt, dass die ständig justierten Zusagen der Kanzlerin immer noch niedriger ausfallen als die noch höheren Garantien, die von Brüssel gefordert werden.

Die SPD und die Grünen wissen, dass es keine echte Alternative zu Euro-Bonds gibt. Die Kanzlerin weiß es auch, aber sie sagt es nicht. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen hat sie sich längst auf den Weg zu Eurobonds begeben, aber sie gesteht dies erst ein, wenn die Opposition die Bundestagswahlen verloren hat. Sie zählt auf den Wunsch des Wählers, sich täuschen zu lassen. Die Opposition kann sich aus dieser Falle nur befreien, wenn sie deutlich macht, dass das Projekt der europäischen Einheit nicht ein notwendiges Übel, sondern eine historische Chance ist und die Verzögerungstaktik der Kanzlerin die Kosten dieses Projekts in Wahrheit verteuert.

Peter Schneider ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Dies ist die letzte Folge seiner Kolumnen an dieser Stelle über Kultur und Politik.

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