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Kultur: Riesen-Hostel Prora eröffnet

Was tun mit dem NS-Bauerbe? Auf Rügen wird das KdF-Seebad als Jugendherberge wiederbelebt.

Als das Modell des KdF-Seebades Prora 1937 der Öffentlichkeit auf der Weltausstellung in Paris vorgestellt wird, ist die Jury fasziniert. Die 4,5 km lange Hotelanlage für 20 000 Menschen am Ostseestrand auf Rügen erhält den Grand Prix. Es ist die Zeit, als Architekten und Ingenieure monumentale Großbauten für die moderne Massengesellschaft ersinnen, Bürotürme und Großsiedlungen, Kraft- und Industriewerke, Stadien und Autobahnen. Während die Bandstadt-Ideen Ernst Mays für Magnitogorsk (1929) und die von Le Corbusier für Algier (1931) Papier bleiben, wird Prora tatsächlich gebaut, wenn auch nie vollendet.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs stehen sieben von acht Hotelblöcken im Rohbau; 1943 werden Teile der Anlage für die Opfer des Luftangriffs auf Hamburg ausgebaut, 1944 wird sie Lazarett, schließlich Flüchtlingsunterkunft. Nach Kriegsende internieren die Sowjets Landbesitzer; als die Nationale Volksarmee Prora 1956 übernimmt und die verbliebenen fünf Hotelblöcke notdürftig herrichtet, werden bis zu 10 000 Soldaten hier stationiert.

Am heutigen Montag wird in Prora die größte internationale Jugendherberge Mecklenburg-Vorpommerns eröffnet – es könnte einmal die größte der Welt werden. Im nördlichsten Block des ehemaligen KdF-Seebades warten in 99 Zimmern 418 Betten auf Jugendliche und Familien aus dem Ostseeraum und ganz Europa; der dazugehörige Jugendzeltplatz ist mit seinen 250 Standplätzen für weitere 1000 Gäste ausgelegt. Eigentümer ist der Landkreis Rügen, der es im Erbbaurecht an das Deutsche Jugendherbergswerk vergeben hat. Die Kosten von 16,4 Millionen Euro stammen aus neun öffentlichen Fördertöpfen von EU, Bund und Land.

Zur Eröffnung steigt ein Festival für Straßenkünstler und -musiker aus aller Welt. Sie sollen die letzten bösen Geister vertreiben. Den Bann gebrochen hatte vor acht Jahren das Festival Prora 03, als 15 000 Jugendliche mit Musik und Spielen den Ort für sich eroberten. Das Seebad war das Projekt der NS-Massenorganisation „Kraft durch Freude“. Gewerkschaften und Arbeiterbewegung waren zerschlagen, ihre Führer im KZ. Terror und Verführung – nämlich die Zwangsvereinigung in Arbeitsfront und „Kraft durch Freude“ – sollten die Arbeiterschaft ruhig stellen und für das NS-System gewinnen.

Mehr zur Geschichte des ehemaligen Seebads lesen Sie im zweiten Teil.

Ein weiteres spektakuläres KdF-Projekt war der Volkswagen. War Prora Vorbote des Massentourismus, so war der Volkswagen Vorbote der Massenmotorisierung. Beide NS-Projekte griffen zukunftsweisende Entwicklungen auf, beide hatten verführerische Wirkung. Für 1000 Reichsmark, so warb Hitler selbst, sollte jeder Deutsche einen Volkswagen kaufen können. Mit Kriegsbeginn wurde der VW zum Geländewagen der Wehrmacht – und Prora zum Kriegslazarett. Am Ende steht der Untergang der „Wilhelm Gustloff“, die, als KdF-Urlaubsschiff gebaut, als Flüchtlingsschiff in der Ostsee versank, mit Tausenden Toten.

Baudenkmäler der NS-Zeit sind Zeugnisse dieser deutschen Vergangenheit. Aber sie bestehen nur aus Stahlbeton, Glas und Stein und sollten weder mystifiziert noch dämonisiert werden. Auch Berlin ist einmal als Hauptstadt zweier Diktaturen dämonisiert worden. Mit nur knapper Mehrheit beschloss der Bundestag vor 20 Jahren den Umzug aus Bonn nach Berlin. Führende Politiker forderten den Abriss historisch kontaminierter Bauten wie der ehemaligen Reichsbank, des Propagandaministeriums, des Luftfahrtministeriums. Schließlich traf Umzugsminister Klaus Töpfer die Entscheidung: Wir nutzen die Bauten und gestalten sie um. Heute lebt ein neuer Geist in ihnen, auch wenn die wuchtigen neoklassizistischen Fassaden der Machtarchitektur gelegentlich noch als Filmkulisse für den 20. Juli 1944 dienen. Ihr nekrophiles Pathos aber verblasst im alltäglichen Gebrauch inmitten einer bunten, lebendigen Hauptstadt.

Auch der „Koloss von Prora“ steht unter Denkmalschutz. Dessen Monumentalität ist aber nur aus der Vogelschau zu erkennen; von See wie von Land verbirgt sich der Bau in seiner ganzen Dimension hinter Kiefernwald und Dünen. Anders als die repräsentativen NS-Propagandabauten entstand das Seebad wie das Volkswagenwerk in Wolfsburg als Fortentwicklung der Architektur der Sachlichkeit der 20er Jahre. Die neuen Bandarchitekturen entsprachen ihrer Funktion, der Massenproduktion und dem Massentourismus. Sie spiegeln die Fließbandarbeit in Fabriken, die Büroarbeit der Angestellten – und den Urlaub als Teil der Rekreation für die moderne Arbeitswelt.

Der Entwurf des Kölner Architekten Clemens Klotz, seine den Strand säumende, funktional schmucklose Hotelanlage mit ihren gleichsam ins Meer stechenden, schiffsartigen Bastionen für Großrestaurants und Gemeinschaftsräume, hätte auch einem utopischen Bauhaus-Prospekt entspringen können. Die an Ernst Mays Frankfurter Römerstadt erinnernden Bastionen sind nie gebaut worden. Insofern täuscht das heutige Bild.

Auch das Foto der Mustereinrichtung eines Zimmers zeigt eine schlichte, moderne Möblierung. Die Behauptung, Proras Schlafzellen seien NS-typisch, weil sie die Urlauber in ideologisch kontrollierte Gemeinschaftsräume zwingen sollten, entspringt einer Neigung zur Dämonisierung. Um kostensparend viele Menschen unterzubringen, entwarf schon das Bauhaus „Wohnungen für das Existenzminimum“. Und die Bettenburgen auf den Kanaren oder den Balearen? Hätte Prora im Westen Deutschlands gelegen und das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit erlebt, wer weiß, ob das Seebad nicht Karriere gemacht hätte, so wie der VW-Käfer.

Es ist nicht zu spät. An der Ostsee wurde 1882 der Strandkorb erfunden, erstes Zeichen des Massentourismus. Und 1936 mit Prora die erste Bettenburg der Welt. Heute lockt Deutschlands größte Insel mit Natur und Kultur. Die Bandstadt liegt wie Binz mit seiner historischen Bäderarchitektur an der schönsten Bucht Rügens, der Prorer Wiek. Bahnstationen und neue Rügenbrücke verbinden mit dem Festland, Polen ist nah, und vom Sassnitzer Fährhafen geht es nach Schweden, Dänemark, Finnland, Russland und ins Baltikum. Private Unternehmer planen für die ersten drei Blöcke Proras Urlaubshotels und Ferienwohnungen. Block IV ist öffentlich ausgeschrieben. Die Jugendherberge in Block V macht nun den Anfang.

Gespenster vertreibt man, indem man sie auslacht. In Prora auf Rügen wird das Lachen der Kinder und Jugendlichen aus aller Welt jetzt neue Geister wecken.

Der Autor Florian Mausbach begleitete als vormaliger Präsident des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung den Planungs- und Bauprozess der Jugendherberge seit 2003.

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