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Kultur: Ripley im Land der Shoah

Vor der Verleihung des Prix Goncourt: Wie Jonathan Littells Skandal-Bestseller „Les Bienveillantes“ den Naziterror benutzt

Eigentlich lag es nahe, doch das Risiko war immens: die Schrecken des Holocaust einmal andersherum zu erzählen – aus der Perspektive eines Täters. Jonathan Littell, ein junger Amerikaner jüdischer Herkunft, der auf Französisch schreibt, hat es gewagt: In seinem Roman „Les Bienveillantes“ (Paris, Gallimard 2006) schildert er die Shoah und den deutschen Vernichtungskrieg im Osten mit den Augen eines SS-Mörders. Das Resultat ist in jeder Hinsicht monströs. „Menschenbrüder, lasst mich erzählen, wie es wirklich war“: Hier spricht einer mit großer Prätention. Beide, sowohl Maximilian Aue, der Erzähler der fiktiven Autobiografie, als auch der junge Romancier, der ihn erfunden hat, wollen Berühmtheit erlangen, indem sie ihr Publikum beeindrucken und schockieren.

Der Erfolg scheint ihnen recht zu geben. In Frankreich ist das Buch seit Wochen ein Bestseller (mehr als 250 000 verkaufte Exemplare). Am Donnerstag wurde Littell von der Academie Française der Grand Prix du Roman zuerkannt. Außerdem ist sein Buch ein Kandidat für den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, der am 7. November vergeben wird. Weltweit streiten sich die Verlage um die Übersetzungslizenzen. Die deutschen Rechte wurden auf der Frankfurter Buchmesse dem Vernehmen nach für 450 000 Euro an den Berlin Verlag versteigert – die Amerikaner sollen mehr als das Doppelte bezahlt haben.

Auf rund 900 Seiten die furchtbarsten Massenmorde der Menschheitsgeschichte zu schildern und uns unter verschiedenen Vorwänden an all jene Orte zu führen, wo „es wirklich geschehen ist“, stellt bereits eine immense Herausforderung dar. Doch sich dabei unter die Mörder zu mischen und freundlich mit ihnen zu plaudern, ihre wahren Namen zu nennen und von ihrem mühevollen Alltag zu berichten, geht noch viel weiter. Denn es zwingt die Leser, sich in die Täter – statt in die Opfer – hineinzuversetzen, die Welt mit ihren Augen zu betrachten, sie Tag für Tag bei ihrer grauenhaften „Arbeit“ zu begleiten und sich am Ende gemeinsam mit ihnen zu bemitleiden, jede individuelle Verantwortung zurückweisend. Ein solches Buch verstört, erschreckt und wühlt auf.

Aber ist es deshalb schon ein gutes Buch, dem man möglichst viele Leser wünscht? Das ist die eigentliche Frage. Zur literarischen Qualität im engeren Sinne kann und will ich mich nicht äußern. Doch angesichts des Themas und des Anspruchs muss es auch Historikern gestattet sein, diesen Roman zu kommentieren. Hinzu kommt, dass ich mich – man verzeihe den autobiografischen Hinweis – ähnlich wie der fiktive und der reale Autor des Buches in einer Mittlerposition befinde. Seit Jahren arbeite ich als Deutscher in einer französischen Wissenschaftsinstitution und veröffentliche in beiden Sprachen.

Genau dieser „deutsch-französische“ Ansatz des Buches scheint mir aber irritierend, weil künstlich und unglaubwürdig, also „falsch“. Zwar kann sich der Autor eines literarischen Werks immer darauf berufen, es handele sich nur um eine „Fiktion“, aber er muss seine Leser trotzdem von seiner Geschichte überzeugen, und genau das dürfte ihm schwerfallen.

Littell möchte uns glauben machen, dass seine Kunstfigur, Obersturmbannführer Dr. Aue, in einem perfekten, literarischen Französisch schreibe, weil er seine Kindheit und einen Teil seiner Studien in Frankreich verbracht habe; außerdem beherrsche er die Sprache so akzentfrei, dass er nach dem Krieg in Frankreich untertauchen kann. Ist es auch wahrscheinlich? Selbst für einen frankophonen Nazi war es damals sicherer, nach Lateinamerika zu flüchten oder sich in der Bundesrepublik zu verstecken, notfalls unter neuem Namen. Kaum zufällig haben es die meisten Ehemaligen der „deutsch-französischen Kollaboration“ nie wieder gewagt, französischen Boden zu betreten, nicht einmal als Touristen.

Die Sache mit der „Muttersprache“ hat noch weitere Aspekte: Was den SS-Erzähler als bloße literarische Konstruktion erscheinen lässt, ist sein völlig abstraktes Verhältnis zur deutschen Sprache und Kultur sowie zur nationalsozialistischen Mentalität. Gewiss, Littell hat seinen Text mit genauen Informationen über die Erschießungsaktionen der „Einsatzgruppen“ im Osten und über die Abläufe der Vernichtungsmaschinerie in den wichtigsten Konzentrationslagern gespickt; außerdem hat er eine Reihe bekannter Episoden oder historischer Quellen geschickt integriert, wie etwa die Genese des berühmten „Korherr-Berichts“ an Himmler vom Mai 1943, in dem zum ersten Mal eine Art statistische Bilanz der „Endlösung“ vorgenommen wird.

Aber das Leben und der Alltag seiner Hauptfigur bleiben vergleichsweise blass und letzten Endes unhistorisch. Stattdessen werden ihre homosexuellen und inzestuösen Begierden umso genüsslicher ausgebreitet. Mit Sätzen wie „Noch den Arsch voller Sperma, entschloss ich mich dem Sicherheitsdienst beizutreten“ wird nicht nur nichts erklärt, sondern lediglich das Klischee vom schwulen Nazi bedient. Wäre „Dr. Aue“ wirklich einer jener ominösen „SS-Intellektuellen“ gewesen, wie sie in der neueren Forschung diskutiert werden, hätte ihm der Romanautor wenigstens ein paar typische Merkmale verleihen müssen – etwa in Bezug auf Erziehung, politische Aha-Erlebnisse, literarische, philosophische oder künstlerische Vorlieben –, um jene radikale Überschreitung der geltenden Normen zu erklären, die mit einer Beteiligung an Massenmorden verbunden war.

Littell jedoch, der anscheinend kein Deutsch kann, lässt sich darauf nicht ein: Die meisten über das Buch verstreuten deutschen Ausdrücke sind entweder verdreht oder falsch. So heißt es z. B. ständig „Kommissarbrot“ statt „Kommissbrot“, von reinen Erfindungen oder Anachronismen ganz zu schweigen: „Führervernichtungsbefehl“, „Lehrter Hauptbahnhof“ oder „Kindersoldat“. Fast alle intellektuellen Bezüge seines Erzählers stammen nämlich aus Frankreich! Ja, Littell will uns sogar glauben machen, dass dieser fanatische SS- und SD-Mann, ob an der Ostfront oder im brennenden Berlin, nichts anderes im Sinn hat, als Stendhal, Flaubert oder gar Blanchot zu lesen!

In einem anderen Kontext wäre all das vielleicht komisch, ebenso wie jene surrealistische Episode, in der unser schwuler Nazi während einer Ordensverleihung seinem Führer am liebsten „an die Nase“ gehen möchte. Doch in diesem Roman mutet das geradezu lächerlich an. Überhaupt fragt man sich, warum dieses Buch so wenig über die Mentalität des Dr. Aue zu berichten weiß.

Dabei gibt es seit langem eine breite wissenschaftliche Literatur etwa über die Sprache im „Dritten Reich“, jene „Lingua Tertii Imperii“, von der Victor Klemperer sprach, oder über die wichtigsten literarischen und philosophischen Autoren, die zumindest von der Elite der NS-Anhänger gelesen wurden. Bei Littell ist von alldem nichts verarbeitet. Offenbar hatte er nicht einmal ein Lexikon deutscher Zitate zur Hand.

Deshalb sprechen all diese mörderischen Offiziere, ob Dr. jur oder Dr. phil., nie wie wirkliche Deutsche. Es wird zwar ständig schwadroniert, aber es gibt nie nie Sprachwitze oder militärische Kalauer. Nur ein einziger Soldatenspruch wird bei jeder Gelegenheit zitiert: „Krieg ist Krieg, und Schnaps ist Schnaps.“ Schreibt so ein „SS-Intellektueller“, der Ernst Jünger gelesen hat und ihm sogar – im Kaukasus – begegnet sein will?

Insgesamt wird das Phänomen des Holocaust ganz auf seine mörderische Exekution reduziert und nahezu ausschließlich durch Unmenschlichkeit, Sadismus und sexuelle Perversionen „erklärt“. Gemessen an dem, was wir heute dank der Arbeit von Historikern, Philosophen oder Künstlern darüber wissen, reicht es kaum aus, um die Katastrophe besser zu verstehen. Stattdessen watet hier der fiktive Autobiograf wie ein Tom Ripley in SS-Uniform immerzu durch Schlamm und Blut (und Sperma!), wobei sein unendlicher Bericht im Wesentlichen nur Banalitäten aneinanderreiht, die man so oder ähnlich – allerdings weniger hardcore – auch schon in Soldatenerinnerungen und Landserromanen lesen konnte.

Wir haben es also mit einem Buch zu tun, das für das historische Verständnis des Holocaust und des „Dritten Reiches“ kaum etwas beiträgt. Es kann weder die Lektüre der erschütternden Zeitzeugenberichte (Antelme, Levi, Klüger, Klemperer usw.) noch die Beiträge der Historiker (Hilberg, Browning, Mommsen, Friedländer usw.) ersetzen. Eher erinnert es an manche Hollywood-Filme, in denen Nazi-Offiziere in frisch gebügelten oder extra verdreckten Uniformen herumstolzieren und hölzerne Dialoge in perfektem Englisch aufsagen – hier freilich durch eine französische Synchronisation ersetzt. Das klingt häufig grotesk, manchmal peinlich bis ekelhaft, und oft einfach nur lachhaft. Frage: Wie prosten sich zwei befreundete SD-Männer in der Kneipe zu? Richtig, mit „Heil Hitler!“ Dieser Unsinn ist nun offenbar auch zum Trinkspruch einiger Verlage geworden.

Der Autor ist Professor für Geschichte am CNRS in Paris, er lehrt außerdem als Honorarprofessor an der FU Berlin.

Peter Schöttler

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