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Roman: Anrufung der Gespenster

Schock und Zorn: Anne Enrights Erfolgsroman „Das Familientreffen“ rekonstruiert im Dialog mit einem imaginären Leser ein Generationendrama. Auch wenn manches zu dick aufgetragen wirkt, ist das Buch ein Ereignis.

„Alle kinderreichen Familien sind gleich“, heißt es einmal bei Anne Enright. „Immer gibt es einen Trinker. Immer jemanden, der als Kind missbraucht wurde.“ Und häufig, könnte man hinzufügen, entpuppt sich der Trinker auch als das Missbrauchsopfer.

Eine Überraschung ist es für den Leser von Enrights Erfolgsroman jedenfalls nicht, dass der trinkfreudige Liam, der sein Leben lang nichts auf die Reihe bekam und nun mit Steinen in den Hosentaschen bei Brighton aus dem Meer gefischt wurde, als Kind zu sexuellen Handlungen genötigt wurde. Eine Überraschung ist es allenfalls für seine Schwester Veronica. Die Erzählerin von Enrights Roman sitzt nach dem Tod ihres Lieblingsbruders voller Zorn und Trauer an ihrer Anklageschrift und nähert sich erst über viele Umwege ihren verschütteten Kindheitserinnerungen.

Veronica ist Ende dreißig, Mutter von zwei Töchtern und Ehefrau eines beruflich erfolgreichen Mannes. Vor allem aber ist Veronica eine Hegarty, und zwar „die siebte von oben, die fünfte von unten“. Mit zwölf Kindern und sieben Fehlgeburten sind die Hegartys wohl selbst für irische Unterschichtverhältnisse ein Sonderfall. Regelrecht überschwemmt von Wut- und Schamgefühlen wird Veronica bei ihrer Rückkehr ins Elternhaus, jenem verschachtelten „Kaninchenbau“, in dem noch nach Jahrzehnten „unser Geruch“ in den Kinderzimmern hängt.

Der Vater ist längst tot, die halb debile Mutter inzwischen so „konturlos“, dass sie sich nicht einmal mehr selbst wahrnimmt. Noch die erwachsene Veronica vermag kaum ihre Aggressionen zu kontrollieren bei der Erinnerung an all das häusliche Elend, dass ihre Eltern verursachten, „die einfach hilflos waren und sich genauso natürlich fortpflanzten, wie sie schissen“.

Nun hat sie als „die Umsichtige“ der Familie auch noch Liams Bestattung zu regeln, muss erst den Leichnam von England nach Dublin überführen, dann die Trauerfeier mit dem im Wohnzimmer aufgebahrten Bruder überstehen, umgeben von den aus aller Welt angereisten Geschwistern. „Das Familientreffen“, 2007 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet, inzwischen in 30 Sprachen übersetzt und nun auch in deutscher Spracher erschienen, trifft mit seiner schonungslosen Abrechnung mit Familie und Sexualität offenkundig einen Nerv. Und zwar erstaunlicherweise nicht nur im katholischen Irland, in dem erst seit den neunziger Jahren öffentlich über Fälle von Kindesmissbrauch von Priestern und in Familien gesprochen wird, sondern auf der ganzen Welt, wie das Medien- und Publikumsinteresse an der irischen Autorin, Jahrgang 1962, zeigt.

Zum Ereignis wird dieses Buch vor allem durch seine Erzählerin, die von ihren Emotionen nach Liams Selbstmord schier überwältigt wird. Veronica will nicht mehr funktionieren, will keinen Erwartungen mehr entsprechen. Stattdessen arrangiert sie nachts ihre „hübschen, weißen Knochen“ auf dem Papier und findet im Schreiben ein Ventil, das auf jegliche Rücksichtnahme verzichtet.

Wohl deshalb wirkt an dem Buch manches allzu dick aufgetragen: Vom Rotz bis zum Sperma fließen hier sämtliche Körpersäfte, und überhaupt sind bei Enright alle Männer verschwitzt und notgeil, als befinde man sich nicht in Dublin, sondern in einem Elfriede-Jelinek-Text. Dass sich Enright, wie sie jüngst in einem Interview bekannte, gerade für einen frisch übersetzten Bestseller aus Deutschland mit dem Titel „Wetlands“ interessiert, verwundert daher nicht.

Mit ihrer drastischen Sprache springt Enrights Erzählerin durch die Zeiten, rekonstruiert im Dialog mit einem imaginären Leser ein sich über mehrere Generationen erstreckendes Familiendrama, vermischt dabei Erinnerung und Fantasie, Wirklichkeit und Möglichkeit, ruft Gespenster zurück ins Leben: die rätselhafte Großmutter Ada Merriman, ihren freundlichen Mann Charly, den Ada nur aus Vernunftgründen geheiratet hat, und Lamb Nugent, den Hausfreund, der jeden Freitagnachmittag in Adas Wohnzimmer Tee trinkt und sich angesichts der Liebe seines Lebens kaum beherrschen kann. Fürwahr, es ist „eine schwindelerregende Angelegenheit, einen Toten zu beerdigen.“

Anne Enright: Das Familientreffen.

Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2008. 350 S., 19,95 €.

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