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Gespensterstadt. Die Lower East Side, so wie Richard Price sie beschreibt, ist ein Kriegsgebiet.

© Spencer Platt/Getty

Roman: Bargeld hat nichts zu lachen

New York als Hauptfigur und Rhythmusgeber: Richard Prices grandioser Roman „Cash“ ist nur an der Handlungsoberfläche ein Krimi.

Die Lower East Side von New York ist ein Stadtteil im Wandel, und das bereits seit vielen Jahrzehnten. War die Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch zu mehr als der Hälfte jüdisch geprägt, zogen nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt Einwanderer aus Asien und Lateinamerika in das Viertel. Die größte Umwälzung allerdings erlebt die Lower East Side gegenwärtig durch die Gentrifizierung, die dafür sorgt, dass soziale Gegensätze hart aufeinanderprallen, Interessenslagen sich gegenüberstehen, Revierkämpfe ausgefochten werden.

Die Lower East Side ist der eigentliche Held von Richards Prices Roman „Cash“, der heute in deutscher Übersetzung erscheint – ein mehr als 500 Seiten starkes Buch, dem ein Stadtviertel auf so faszinierende wie virtuose Weise seinen Rhythmus gibt. Es pulsiert und brodelt, sperrt sich und verschließt sich, öffnet und enttarnt sich, zeigt seine hässlichen Seiten, verändert sich und bleibt sich untergründig doch gleich. Da wird um Immobilien geschachert; da gibt es Initiativen von Ladenbesitzern gegen den Lärm der wie aus dem Boden schießenden Bars, in denen das Feiervolk sich vergnügt; da leben in einer der Unterschichtenwohnungen in den Hochhäusern im Süden drei Kinder und mehrere Hamster auf einem Matratzenlager in einem winzigen Zimmer.

Price erzählt in einer gewöhnungsbedürftigen, dann jedoch umso schlüssigeren Sprache, einem Amalgam aus dem Hard-Boiled-Tonfall eines Raymond Chandler und einer Poesie des rauen, umgangssprachlichen Alltags. Und er hat den Blick für die Gestalt seines Schauplatzes und dessen Flackern zwischen Vergangenheit und Zukunft, bei dem die Gegenwart auf der Strecke bleibt: „Die Clara-E.-Lemlich-Siedlung war ein schmuddeliges Areal von fünfzig Jahre alten Hochhäusern, die zwischen zwei Jahrhunderten festklemmten. Nach Westen wurden die vierzehnstöckigen Häuser von der One Police Plaza und dem Verizon-Hauptquartier überragt, massiven futuristischen Gebilden ohne besondere Merkmale, abgesehen von ihrer blinden, emporkletternden Endlosigkeit, und nach Osten überragte wiederum die Siedlung die Backsteinhäuser in der Madison Street aus der Zeit des Bürgerkriegs.“

Nur an der Handlungsoberfläche ist „Cash“ ein Kriminalroman. Das Whodunit steht nicht im zentralen Interesse der Handlung – zu banal ist der Fall, zu profan wird er schließlich auch ein wenig überraschend aufgeklärt. Es sind die Atmosphäre, die Charaktere und vor allem die Rasanz, mit der sich die Figuren – auch rhetorisch – in ihrem Umfeld bewegen, die dafür sorgen, dass dieser Roman keine Seite zu lang erscheint.

Richard Price veröffentlicht seit den siebziger Jahren Romane, hat sich aber vor allem als Drehbuchschreiber einen Namen gemacht, zuletzt für die viel gefeierte TV-Serie „The Wire“. Über Seiten hinweg inszeniert er Dialoge oder gar Verhöre als grandioses Pingpong zwischen sich meist nicht gerade wohlgesonnenen Parteien: Polizisten und Ghettokids, Chefs und Angestellten, Ex-Männern und Ex-Frauen. Am Anfang von allem steht ein Mord. Nach einer durchzechten Nacht wird Ike Marcus, der als Barkeeper in der Lower East Side arbeitet, bei einem Raubüberfall erschossen. Den Tätern soll er sich mit den Worten „Heute nicht, Mann“ in den Weg gestellt haben. „Verbaler Selbstmord“, so nennen sie das hier. Zwei Männer waren in Ikes Begleitung: Eric Cash, der Geschäftsführer der Bar, in der Ike gearbeitet hat, und ein zum Tatzeitpunkt bereits dem Delirium naher Freund Ikes, der sich später als begabter Schmierenkomödiant in Sachen mediengerechter Trauerinszenierung erweisen soll. Überwiegend bleibt Price den Ermittlern der New Yorker Polizei in all ihrer eingeschränkten Handlungsfähigkeit und gleichzeitiger Abgebrühtheit dicht auf den Fersen. Aufgrund einer Zeugenaussage wird zunächst Eric Cash selbst zum Verdächtigen – als klar wird, dass man auf der falschen Fährte ist, ist viel Zeit vergangen.

Weiß ist gar nichts in Prices Romanwelt, bestenfalls grau, in jedem Fall düster. Der zuständige Detective Matty Clark, ein sturer Ire mit verkorkstem Familienleben, muss nicht nur polizeiinterne Komplikationen aushalten, sondern vor allem auch den Vater des ermordeten Ike unter Kontrolle halten. Billy Marcus ist die zweite heimliche Hauptfigur des Romans, durch den er wie ein getriebener und unglücklicher Geist flattert, der auftaucht, wo er nicht sein dürfte, und in seiner Trauer keine Rücksicht nimmt auf taktische Spielchen. Ein Mann, der die Zeit zurückholen will.

„Cash“ ist voll von kaputten und halbkaputten Typen, die selbst dort nicht als Stereotypen erscheinen, wo Price den mit Sicherheit gewagtesten Schritt unternimmt – in jenen immer wieder eingestreuten kurzen Kapiteln, in denen er aus der Perspektive der Täter erzählt. Klar, eine Menge „Yo man“-Gehabe ist dabei, doch ist der so straight durchgepeitschte Text selbst in diesen Passagen von erstaunlicher Differenzierungsfähigkeit. Am Ende mag ein Mordfall geklärt sein. Ein Anlass, zur Ruhe zu kommen, ist das in dieser Gespensterstadt nicht.

Richard Price: Cash. Roman. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, 524 Seiten, 19,95 €.

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