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Eleonora Hummels Roman „In guten Händen, in einem schönen Land“ führt den Leser zurück in das Russland der Stalin-Zeit.

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Roman „In guten Händen, in einem schönen Land“: Bei Väterchen Stalin

Reise durch eine bleierne Sowjetunion der stalinistischen Repression: Eleonora Hummels Roman „In guten Händen, in einem schönen Land“ erzählt das Schicksal einer Frau, die nach langer Haftstrafe den Weg zurück ins Leben sucht.

Olessia Lepanto hat 17 Jahre Haft in einem sowjetischen Arbeitslager hinter sich. Der Mann, der ihr jahrelang Päckchen geschickt hat, der sie einmal sogar heiraten wollte, erkennt sie beim Abholen auf dem Bahnhof nicht mehr: „Er sucht nach der Frau, die du nicht mehr bist. (…) Du rufst den Mann bei seinem Namen. Er dreht sich um, neigt leicht den Kopf, formt eine Frage in seinem Gesicht. ‚Kennen wir uns ?’“

Wie kann man nach einer langjährigen Haft weiterexistieren? Wie kann man sein Leben neu organisieren? Das sind Grundfragen in Eleonora Hummels Roman, der in die bleierne Sowjetzeit der 50er und 60er Jahre führt: die Zeit stalinistischer Repression, in der schon kleinste Abweichungen vom System zu langjähriger Verurteilung führen konnten. Es ist ein Klagechor dreier Stimmen: zwei Mütter und ein kleines Mädchen, das am Ende des Buches erwachsen und selbst zur Mutter geworden ist. Diese drei Protagonistinnen erzählen in wechselnden Kapiteln ihre Perspektive auf die ineinander verschränkten Ereignisse: anklagende, wütende, eindringliche Stimmen, die die Sinnlosigkeit erlittener physischer und psychischer Verletzungen zum Ausdruck bringen. Über das Schicksal dieser Frauen holt die Autorin, 1970 in Kasachstan geboren und mit 12 Jahren nach Dresden übergesiedelt, auch den Beginn der Geschichte der Sowjetunion nahe heran.

Olessia Lepanto, eine talentierte Schauspielschülerin, stammt aus einer großbürgerlichen Familie. In der Zarenzeit war ihr Vater Diplomat. Während der Bürgerkriegsjahre auf der Krim gehörte er zu den Unterstützern der Weißen Armee und wurde 1921 auf Befehl der Militärregierung hingerichtet. Diese Herkunft wird für Olessia zum Verhängnis: Unter dem Vorwand der „feindlichen Einstellung gegenüber dem Sowjetstaat“ wird sie 1941 verhaftet und verurteilt. Während der Haft wird sie schwanger. Wegen ihres „Ungehorsams“ muss sie noch schwerere Arbeiten als sonst verrichten. Trotzdem bringt sie das Mädchen gesund zur Welt – Viktoria wird dann in einem staatlichen Kinderheim aufgezogen.

Seltsame Beziehung endet im Kampf

Im Arbeitslager in Kasachstan freundet sich Olessia mit ihrer Mitgefangenen Nina an. Diese wurde kurz nach der Geburt ihres Kindes von ihrem eigenen Mann, einem Parteifunktionär, angezeigt und dann verurteilt. Sie hatte es gewagt, sich über dessen außereheliche Eskapaden zu beschweren. Ihr Kind, ebenfalls ein Mädchen, stirbt im Alter von sechs Monaten. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine seltsame Beziehung, die schließlich sogar zum Kampf um Viktoria führen wird: „Trost kann sich als heimtückisch erweisen. Du fühltest dich ihr gegenüber in der Pflicht, weil Ninas Tochter tot war und deine lebte. Du gingst von ungleichen Verlusten aus, obwohl du selbst lange nichts mehr von deinem Kind gehört hattest.“

Olessia befürchtet, dass sie ihr Kind nach der Entlassung nie mehr wiederfinden könnte. Und so bittet sie Nina, deren Haftzeit verkürzt wurde, nach Viktoria zu suchen und sich um sie zu kümmern. Nina hält ihr Versprechen, reist kreuz und quer durch die Sowjetunion, bis sie das Kind schließlich in einem Heim entdeckt – doch nun macht sie die Sorge um das Mädchen zu ihrem neuen Lebensinhalt. Viktoria erkennt das sehr schnell: „Der neue Sinn in Nina Petrownas Leben – das bin ich. Der frühere Sinn ist ihr abhandengekommen, als ihre kleine Tochter gestorben ist. Nun habe ich deren Platz eingenommen. Es gibt weitaus Schlimmeres, als für jemanden zum Sinn des Lebens zu werden.“ All die Zuneigung, die eigentlich der leiblichen Mutter gelten sollte, fließt nun zu Nina.

Die erzählerische Stimme des Kindes erzeugt im Dreiklang dieser bewegenden Innenansichten den intensivsten Widerhall: unversöhnlich und radikal egozentrisch. Viktoria will endlich ein Zuhause haben und der Ödnis des Kinderheims entkommen, in dem es nicht einmal gestattet ist, am Fensterbrett auf Besuch zu warten. Sie kann nicht wissen, dass ihre Mutter zu Unrecht verurteilt wurde. Ihr ist nur gesagt worden, dass sie sich nicht an die Gesetze gehalten hat – so entstehen Ablehnung und unbegründeter Hass. Die Heimerziehung gemäß der politischen Linie führt im Laufe der Jahre zu der Überzeugung: „Ich bin in guten Händen, in einem schönen Land.“ Für Viktoria sind Erkenntnis und Versöhnung mit ihrer Mutter erst nach Jahrzehnten möglich.

Eleonora Hummel: In guten Händen, in einem schönen Land. Roman. Steidl Verlag, Göttingen 2014. 368 Seiten, 22 €

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