zum Hauptinhalt
 Delphine de Vigan.

© Joel Saget/AFP

Roman von Delphine de Vigan: Nichts als die Wahrheit, bitte!

Wirklichkeit oder Fiktion, metaliterarisches Spiel oder Psychothriller? Delphine de Vigan verteidigt die Imagination – in einem erfundenen Tatsachenbericht.

Sie hatten oder haben Krebs und leben noch? Schreiben Sie darüber! Sie wurden als Kind missbraucht, hatten einen Burn-out, mussten mit dem Suizid eines Angehörigen fertig werden und/oder waren auf dem Jakobsweg? Schreiben Sie, schreiben Sie! Verlage sind entzückt, wenn sie wieder jemanden finden, der wirklich etwas zu berichten hat: etwas Wahres, etwas Echtes. Und mit ihnen die Leser. Jeder Buchhändler weiß: Kleinkinder lieben Fühl-, Erwachsene Erlebnisbücher. Das Spektrum reicht von Miriam Meckels „Brief an mein Leben“ bis zu Benjamin von Stuckrad-Barres „Panikherz“.

Kein Wunder, dass sich Romanautoren immer mehr unter Druck gesetzt fühlen. Seit jeher nervt sie die notorische Leserfrage „Haben Sie das, was Sie erzählen, wirklich erlebt?“ Inzwischen müssen sie erleben, dass Fiktion und Fantasie nur noch in Genres wie der Fantasy so richtig angesagt sind. Oder dass sie gleich ganz in andere Medien emigrieren, ins Reich der hippen TV-Serien, wo sich die Zuschauer noch die aberwitzigsten Plots gefallen lassen.

Statusverlust der literarischen Vorstellungskraft

Die französische Autorin Delphine de Vigan, Jahrgang 1966, hat den Statusverlust der literarischen Vorstellungskraft zum Thema ihres neuen Romans gemacht. Man muss die Gattung betonen, denn das Werk unternimmt alles, um sich als Tatsachenbericht auszuflaggen: angefangen mit dem Titel („Nach einer wahren Geschichte“) über klug eingestreute effets de réel bis hin zur Form der Autofiktion à la Emmanuel Carrères „Alles ist wahr“ oder Thomas Glavinics „Das bin doch ich“: Eine Ich-Erzählerin namens Delphine hat, ähnlich wie die reale Autorin, mit einem autobiografischen Buch über den Selbstmord ihrer an Schizophrenie erkrankten Mutter gerade ihren Durchbruch erzielt; das Vorbild ist offensichtlich Vigans letzter Roman, auf Deutsch 2013 unter dem Titel „Das Lächeln meiner Mutter“ erschienen.

Der Roman inszeniert sich als autobiografischer Bericht über die Zeit danach: Was folgte, jedenfalls für die Roman-Delphine, war eine Übergangsphase, voller Verletzlichkeit und Unsicherheit, nicht zuletzt aufgrund verstörender Leserreaktionen und anonymer Anfeindungen aus der eigenen Familie. Aber auch mit ersten Ideen für einen neuen, diesmal wieder fiktiven Roman: über Figuren, die nach der Teilnahme an einer Reality-TV-Serie wie „Big Brother“ zurück ins richtige Leben finden müssen.

Delphine gerät in eine Schreibkrise

Der Roman wird nie geschrieben. Denn Delphine gerät in eine Schreibkrise, die immer schlimmer wird und sie für Jahre arbeitsunfähig macht. Bald führt schon das Öffnen eines neuen Word-Dokuments zu Brechreiz, und selbst das Schreiben von Einkaufszetteln wird ihr unmöglich.

Zum Glück hat Delphine L., ihre neue beste Freundin und Retterin in der Not. L. ist gleichermaßen selbstbewusst wie faszinierend. Und praktischerweise nicht nur eine exzellente Kennerin von Delphines Werk, sondern auch noch von Beruf Ghostwriterin. Kurzerhand zieht sie bei Delphine ein, erledigt für die blockierte Autorin erst den Bürokram, dann die Mails an Freunde, schließlich verfasst sie ein überfälliges Vorwort für eine Maupassant-Ausgabe. Alles nur, damit sich Delphine ganz auf ihren neuen Roman konzentrieren könne, versteht sich.

Die Geschichte einer schrittweisen Behexung

Delphine und L. – das ist die Geschichte einer unheimlichen Usurpation, einer „schrittweisen Behexung“. Wie eine Spinne webt die mysteriöse L. – ein Wortspiel Vigans mit dem französischen „Elle“ (sie) – um die immer hilflosere Delphine ihr Netz, isoliert sie von ihren Freunden, wird zur unentbehrlichen Gesprächspartnerin, endlich zu ihrer Doppelgängerin. Dass sie weniger eine Hilfe, als vielmehr die Ursache für Delphines writer’s block ist, wird erst in der Rückschau klar, nach der gewaltsamen Selbstbefreiung aus L.s Bann.

Denn was die Schriftstellerin blockiert, sind just L.s flammende Reden über Delphines Werke und ihr neues Projekt – von dem L. nichts hält. Sie, die selbst ernannte Vertreterin von Delphines Leserschaft, hält Autoren für „menschliche Bomben mit erschreckender Zerstörungskraft“. Und fordert von der Ich-Erzählerin, dass sie auch künftig ihr Innerstes, Intimstes nach außen kehrt, statt in die „Komfortzone“ zurückzukehren und wieder „Pappkameraden“ zu erfinden, die man „wie Papiertaschentücher“ wegwerfen kann. „Schreiben gibt es nur als Schreiben über sich. Das Übrige zählt nicht.“

Eine Verteidigung er literarischen Imagination

Also „Wahrheit“ statt „Erfindung“? Das Reale habe eben „die Eier, viel weiter zu gehen“, hört die an sich selbst zweifelnde Delphine prompt einen Jugendlichen in der Metro sagen, obwohl sie doch nur zu gut weiß, dass Realität ohne Fiktion und Verdichtung literarisch nie zu haben ist. Beim Nachdenken über diesen (Schein-?)Konflikt verliert die verunsicherte Autorin ihr Schreibvermögen wie Kleists Knabe seine Anmut beim Anblick seines Spiegelbildes.

Delphine de Vigans Roman ist ein gelungener Zwitter: gleichermaßen ein vergnüglich-raffiniertes metareflexives Spiel um Wahrheit, Erfindung und Identität wie ein packender Psychothriller. Letzterer geschult etwa an Altmeister Stephen King, aus dessen Romanen (vor allem aus „Misery“) die Autorin gleich mehrere Mottos übernimmt; wenig überraschend, werkelt just Roman Polanski schon an einer Verfilmung. „Nach einer wahren Geschichte“, in Frankreich mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet, ist aber auch und vor allem eines: eine eindrucksvolle Verteidigung der literarischen Imagination. Denn, in Delphines Worten: „Ein Realitätszertifikat macht den Roman nicht besser.“ Ausgenommen natürlich, ein fingiertes.

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte. Roman. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Literaturverlag, Köln 2016. 350 Seiten, 23 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false