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Kampf dem Virus. Polio-Impfung 1955 in New York – der Roman spielt zehn Jahre zuvor. Da konnte die Krankheit noch tödlich sein. Foto: AFP

© AFP

Roth-Roman "Nemesis": Erlösung gibt es nicht

Gott und die Kinderlähmung: Philip Roth erzählt in seinem Roman „Nemesis“ von einer Epidimie und einem Sportlehrer, den Schuldgefühle quälen

Ein wenig Furcht schwingt immer mit, wenn wieder ein neuer Roman des unermüdlichen Philip Roth angekündigt wird. Ob Roth seine Helden erneut mit grünen Dildos und anderem Sexspielzeug zur Sache gehen lässt, wie in seinem 2009er-Roman „Demütigung“? Ob es wieder um ältere Männer geht und deren Prostatabeschwerden, um deren nie versiegenden Bedarf an Sex und Liebe, wie in „Das sterbende Tier“, „Exit Ghost“ oder „Jedermann“; um Männer also, deren letzter Lichtstreif am Horizont stets jüngere, „geschmeidige, großbrüstige“ Frauen sind?

Von der Altmännerfantasie der pornografischen Sorte kann Roth in seinem Spätwerk nicht lassen, wiewohl er der Problematik seiner Helden viele andere, universellere Facetten abgewinnt: die Angst vor dem Nachlassen auch der geistigen Kräfte im Alter, vor dem Tod, die Vergeblichkeit aller menschlichen Bestrebungen, die Paranoia der USA nach 9/11.

Im Fall des jüngsten Roth-Romans, der im Herbst in den USA veröffentlicht wurde und nun auf Deutsch vorliegt, sind Befürchtungen wie die oben genannten jedoch unbegründet: „Nemesis“ kommt fast ohne Sex und ohne alte Männer aus. Er handelt zunächst vom Ausbruch einer (fiktiven) Polio-Epidemie in Roths Heimatstadt Newark im Sommer 1944. Die Stadtbewohner, die es sich leisten können, verbringen die Ferien auf dem Land und in den Bergen oder schicken ihre Kinder fort, weil sie glauben, „die Stadt mit ihren schmutzigen Straßen und der stickigen Luft begünstige eine Ansteckung“.

Hauptfigur des Romans ist Bucky Cantor, „einer der sehr wenigen jungen Männer in unserem Viertel (...), die nicht in den Krieg gezogen waren“ – aufgrund einer extremen Kurzsichtigkeit. Cantor ist Sportlehrer, er hat in den Ferien die Aufsicht auf einem der städtischen Sportplätze. Zwei seiner Schützlinge erkranken an Polio und sterben. Kurz darauf entschließt er sich, eine Stelle als Schwimmlehrer in einem Feriencamp in den Bergen anzunehmen, wo sich seine Freundin und zukünftige Frau Marcia und deren jüngere Zwillingsschwestern aufhalten.

Doch die Schuldgefühle, sich aus der Verantwortung gestohlen zu haben, nagen an ihm. Nur kurz kann er die Freude von Marcia teilen: „Für einen Augenblick gelang es ihm, den Verrat an seinem Engagement und seiner Verantwortung für die beiden Jungen beinahe zu vergessen; es gelang ihm, das Ausmaß seiner Empörung darüber zu vergessen, dass Gott den unschuldigen Kindern von Weequahic etwas antat, das einer Heimsuchung gleichkam.“ Und er fragt sich: „Wie hatte er nur tun können, was er getan hatte?“

Genau diese Frage stellt Bucky Cantor sich in Folge andauernd, hat er doch „die Lösung all seiner Probleme bisher stets in Sorgfalt, Verantwortungsbewusstsein und harter Arbeit gefunden“. Inzwischen aber steckt er voller Schuldgefühle und Gotteszweifel, sei es, dass er daran denkt, dass seine Mutter im Kindbett sterben musste, sei es, dass er sich vorwirft, anders als zwei seiner besten Freunde um den Krieg herumgekommen zu sein. Als die Polio auch im Feriencamp zuschlägt, ist es ganz aus mit ihm. Er glaubt derjenige zu sein, der das Virus mit in die Berge gebracht hat; verstärkt wird diese Selbstanklage dadurch, dass er selbst schwer an Kinderlähmung erkrankt.

Philip Roth versteht es in seinem Roman sehr gut, die Atmosphäre Newarks und den Umgang der Bewohner mit der unsichtbaren Gefahr zu beschreiben. Hier die Mischung aus Sommerhitze, Angst, aufkommender Panik und gegenseitigen Beschuldigungen in der Stadt. Dort das Camp in den Bergen mit seiner guten, reinen Luft, seinem Erziehungssystem, in dem die sportliche Ertüchtigung eine große Rolle spielt.

Verwunderlich aber ist, warum Roth seinem Helden kein Geheimnis gibt, ihm keine Chance lässt, sich zu entwickeln. Stets erklärt er die Zwiespälte, in denen Cantor steckt. Das verleiht „Nemesis“ passagenweise etwas Lehrbuchhaftes. Roths Held ist eine eindimensionale Figur mit einem einfältigen, Widersprüche nur schwer aushaltenden Charakter. Und Gott kommt dieser Figur mehr und mehr abhanden: „Glaubst du wirklich, dass Gott deine Gebete erhört hat“, fragt er Marcia in der ersten Nacht seiner Ankunft im Sommercamp, um ihr daraufhin zu erklären, dass kein Jude zu einem Gott beten kann, „der einem Viertel mit Tausenden und Abertausenden von Juden einen solchen Fluch auferlegt hat“. Konsequent gibt sich Cantor fast dreißig Jahre später noch die Schuld an den Ereignissen: „Ich wollte Kindern helfen und sie stark machen, aber stattdessen habe ich ihnen irreparablen Schaden zugefügt.“

Aufschlussreich allerdings ist, wie Roth seine Novelle perspektivisch aufbereitet, auf dass man als Leser vielleicht doch seine Zweifel an Cantors Innenausstattung bekommen möge. Ein kollektives Wir erinnert sich zunächst der Polio-Epidemie in Newark, um bald von einem personalen Erzähler abgelöst zu werden, der sehr genau über Bucky Cantor Bescheid weiß. Zwischendrin gibt einer aus diesem Wir, ein Junge namens Arnie Mesnikoff, bei einer Aufzählung der Neuerkrankungen sich mit einem überraschenden „und ich“ als Ich-Erzähler zu erkennen, um schließlich im dritten „Nemesis“-Kapitel seine zufällige Begegnung 1971 mit dem verkrüppelten, mental nicht gereiften Cantor zu schildern.

Das Spiel mit den Perspektiven deutet auf mögliche Lücken im Leben des Helden; es sorgt dafür, dass der an sich selbst Vergeltung übende, auf seine große Liebe Marcia verzichtende Cantor zumindest einmal mit anderen Augen betrachtet wird. Arnie Mesnikoff hadert nicht mit dem Schicksal und dessen Unausweichlichkeit, er hat sein Leben trotz Kinderlähmung im Griff. Verständnis für seinen ehemaligen Sportlehrer hat er wenig. Und doch fragt Mesnikoff sich nach diversen, in viele „Was wäre, wenn“- Konjunktivsätze gekleideten Gedanken über Cantors Leben auch: „Vielleicht hatten sein Unverständnis und Misstrauen gegen sich selbst seine Gedanken keineswegs getrübt. Vielleicht irrte er sich nicht. Vielleicht waren seine Behauptungen gar nicht so unlogisch. Vielleicht hatte er keine falschen Schlüsse gezogen.“

Vielleicht muss man am Ende eines Lebens wirklich alle Hoffnung fahren lassen, da hilft kein Gott und auch nicht die Überzeugung, dass es Gott nicht gibt. Keine Erlösung, nirgends. Philip Roth will keinen Stab brechen über einen Menschen, der sein persönliches Scheitern mit den Zeitumständen und von ihm nicht beeinflussbaren Tragödien verknüpft. Der einzige Trost, den Roth in diesem kühl anmutenden, mitleidlosen Roman bereithalten mag, ist die Erinnerung. Zumindest darin erscheint der Sportlehrer und kraftvolle Speerwerfer Bucky Cantor seinem ehemaligen Schüler als „unbesiegbar“.

Philip Roth: Nemesis. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2011. 219 S., 19,90 €

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