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Kultur: Rotzgören, Glotzröhren

Immer wieder Risiko: Die Neuköllner Oper wagt einen Neuanfang – nach dem Weggang von Peter Lund

Sie sind klein. Und gemein. Sie sind die süßesten, charmantesten Erdenbewohner, die man sich vorstellen kann – bis ihnen die Erziehungsberechtigten den Rücken zudrehen. Das Musical „Elternabend“ von Peter Lund und Thomas Zaufke bringt genau das auf die Bühne, wofür die Neuköllner Oper seit 26 Jahren berühmt ist: Freches, auf intelligente Weise unterhaltendes zeitgenössisches Volkstheater mit Musik. Im vierten Stock des Hauses Karl-Marx-Straße 131-133 wird seit mehr als einem Vierteljahrhundert Avantgarde mit populärem Anspruch gemacht. Im Frühjahr war die Uraufführung des „Elternabends“ ein riesiger Publikumserfolg. Über die Sozialsatire aus dem politisch korrekten Friedenauer Schülerladenmilieu, bei der ein halbes Dutzend Väter und Mütter von ihrem Nachwuchs an den Rand des Wahnsinns getrieben werden, konnten auch Ledige und Großeltern herzlich lachen. Darum wird die Musical-Produktion ab Donnerstag wieder ins Programm genommen – gewissermaßen als Abschiedsgeschenk für Peter Lund.

Seit 1996 hatte sich der Autor und Regisseur die künstlerische Leitung des Hauses mit dem Neuköllner Operngründer Winfried Radeke geteilt. Hier hauchte Lund Operetten wie der „Blume von Hawaii“ oder dem DDR-Musical „Messeschlager Gisela“ neues Leben ein. Hier wurde die Hexe Hillary geboren, die mittlerweile republikweit Kinder an die Oper heranführt. Hier entstanden in Zusammenarbeit mit Komponisten wie Thomas Zaufke oder Wolfgang Böhmer jede Menge Uraufführungen, darunter auch das längst legendäre „Wunder von Neukölln“. Seit 2002 unterrichtete der stets gut gelaunte, nie um eine schrille Idee oder eine charmante Pointe verlegene Lund auch im Studiengang Musical/ Show der Universität der Künste. Ein Job, der ihm so viel Spaß macht, dass er zum Herbst nun ganz an die Hochschule wechselt.

Zwar will der Herr Professor auch künftig immer mal wieder in Neukölln arbeiten – für den Herbst 2005 ist ein neues Musical in Arbeit –, doch den Leuten von Berlins rührigster Off-Oper blieb nichts anderes übrig, als sich nach einem Ersatz für den Unersetzbaren umzusehen. Denn Winfried Radeke hat keine Lust, den Intendanten alleine zu spielen. Weil sich Radeke in erster Linie als Komponist und Kapellmeister definiert, liegt ihm die alltägliche administrative Plackerei nicht. Stattdessen konzentriert er sich lieber auf seine Projekte – darunter für die kommende Saison Giuseppe Verdis Oper „Macbeth“, allerdings alla neuköllnese, also in einer Neudeutung, die den räumlichen wie ästhetischen Dimensionen des Hauses angemessen ist.

Mit Bernhard Glocksin hat sich das zwölfköpfige Team auf einen Lund-Nachfolger geeinigt, der die Neuköllner Oper vor allem gedanklich weiter bringen soll: 1959 im hessischen Dieburg geboren, hat Glocksin nach seinem Studium der Germanistik und Musikwissenschaft überwiegend als Dramaturg gearbeitet, zunächst an der Oper in Hannover, dann beim Zürcher Neumarkttheater sowie am Landestheater Salzburg. 1995 wurde er Chefdramaturg in Mainz, vier Jahre später wechselte er in derselben Funktion nach Göttingen. Der dunkellockige Denker ist ein Mann, der gerne die Formulierung „konkret heißt das“ verwendet, um dann doch metaphernreich weiter zu theoretisieren. Weshalb aber keineswegs befürchtet werden muss, dass der Neuköllner Oper ihre Spontanität abhanden kommt. Zur Laberbude soll die Bühne nicht mutieren. Aber einige hausinterne Tabus dürften in den kommenden Spielzeiten fallen: Glocksin nämlich ist fasziniert von den Möglichkeiten, die die elektronischen Medien bieten. Als Unruhestifter im eingespielten Team will er mithelfen, die Grenzen der Wahrnehmung neu zu definieren. Und zwar nicht, indem er Filmemacher als Regisseure verpflichtet, wie es bei den Staatstheatern derzeit Mode ist, sondern, indem er sich mit Leuten, die in Sachen Video, Sampling oder Schnitttechnik vorne mitspielen, zusammensetzt und darüber nachdenkt, welche Aspekte der Neuen Medien für das alte Gesamtkunstwerk Oper nutzbar gemacht werden können.

Dafür, dass Glocksin bei seinen Gedankenflügen immer mal wieder auf den Teppich zurückkommt, sorgt Sebastian König. Im Direktorium der Neuköllner Oper ist der 1974 in Hannover geborene Jurist für alles zuständig, was Geld kostet. Seine Aufgabe definiert er so: „Ich muss die Künstler davon überzeugen, dass es für sie persönlich einen Gewinn darstellt, bei uns zu arbeiten.“ Finanziell hat er nämlich wenig anzubieten. Gerade 80 Euro pro Abend verdienen Sänger und Musiker hier. Mit dem Etat von 1,25 Millionen Euro (900000 Euro kommen vom Berliner Senat) müssen in diesem Jahr 240 Vorstellungen bewältigt werden. Das geht nur, wenn sich alle Beteiligten als Kollektiv begreifen: „Bei uns steckt jeder – von der Putzfrau bis zur Primadonna – gleich viel Herzblut in jede Produktion“, berichtet König. „Es gibt keinerlei Scheuklappen, jeder denkt auch für die anderen Bereiche mit.“

Das kann der Zuschauer tatsächlich jeden Abend spüren: An der Neuköllner Oper arbeiten Leute, die mit aller Kraft etwas wollen. Glocksin spricht von einem „Paralleluniversum“ – und er meint das absolut positiv. Nach vielen Jahren in Stadttheatern muss ihm das Haus vorkommen wie die Enklave der Gallier im römischen Reich: Hier stemmt sich eine Hand voll Idealisten gegen den Turbokapitalismus, hier leben Leute den Traum, dass Kunst nicht nach Geld strebt.

Das Publikum honorierte diese außergewöhnliche Arbeitsethik im vergangenen Jahr mit einer durchschnittlichen Platzauslastung von 81 Prozent. Und das ist auch nötig: Denn ab der Premiere muss sich jedes Stück selber tragen, die Mittel reichen nur für die Anschubfinanzierung der Probenphase. In der aktuellen Umbruchphase hofft das Team, bei der Wiederaufnahme des „Elternabends“ oft das „Ausverkauft“-Schild ans Kassenhäuschen hängen zu können – so wie bei der ersten Aufführungsserie.

Dennoch will die neue Viererbande – Winfried Radeke, Bernhard Glocksin, Sebastian König und Marketingchef Andreas Altenhof – auch künftig nicht vom selbst gesetzten Anspruch der Bühne abweichen. Und der lautet: Mut zum Risiko. Neun neue Produktionen sollen 2004/2005 an der Karl-Marx-Straße herauskommen. Sieben davon werden Uraufführungen sein. Die Schriftstellerin Dea Loher hat „Licht“, einen Text über das Leben und Sterben der Hannelore Kohl, der ursprünglich für das Hamburger Thalia Theater entstand, zum Libretto umgearbeitet (Premiere: 19.August). Unter dem Titel „Friendly fire“ beschäftigen sich Klaus Arp und Andreas Bisowski mit dem „posttraumatischen Stress-Syndrom“ bei Soldaten (Uraufführung 9. September). Bereits in Arbeit sind auch zwei neue Stücke über die Einsamkeit vor dem Bildschirm („Chatroom“) und zum Thema Skinheads („Hautköpfe“). Yüksel Yolcu präsentiert eine Stilblüte der k.u.k.-Operettentradition, Leo Falls „Rose von Stambul“, und Jiri Antonin Bendas Singspiel „Der Dorfjahrmarkt“ von 1775 soll der Beitrag der Neuköllner Oper zur EU-Aufklärungskampagne werden.

Mit den Worten „Wir wollen ganz viel!“ eröffnete Bernhard Glocksin jüngst die Saison-Präsentation. Drüben an der UdK wird es Professor Lund gerne gehört haben: Die Neuköllner Oper schafft Jobs für seine Studenten.

„Elternabend“, bis 1. August, Infos: www.neukoellneroper.de oder 688 90 777

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