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Heath Ledger

© dpa

Rückblick 2008: Lachen am Abgrund

Heath Ledger und Tschechow, Leonard Cohen und Christoph Schlingensief. Ein persönlicher Rückblick auf das Jahr 2008

Leonard Cohen, Dublin, 13. Juni 2008, Royal Hospital Kilmainham.

Der Tag wird lang, wenn man wartet und müde ist. Warten auf Leonard Cohen. „Waiting for the Miracle“, eins der schönsten Lieder auf dem Album „The Future“ von 1992. In all den bald sechzehn Jahren hat er keine Konzerte mehr gespielt, stand auf keiner Bühne, aus philosophisch- religiösen Gründen, möglicherweise. Seit Mai läuft die Comeback-Tour, mit ersten tastenden Auftritten in seiner kanadischen Heimat, und heute Abend das erste Konzert auf europäischem Boden. In Dublin, der Stadt der Dichter, wie er nachher sagen wird, in der schwingenden, klingenden Pause zwischen zwei Songs. Joyce, Yeats, Beckett, Shaw ...

Warten in der Fußgängerzone. Ein Penner setzt sich zu dir auf die Bank, bittet um eine Zigarette. Er erzählt. Von seiner Schwester oder seiner Frau, oder war es seine Mutter, die ihm so übel mitspielte, oder bloß die Vermieterin? Der Alte ist überaus höflich, er verabschiedet sich nach der Zigarette, ohne um Geld zu bitten, und dann hast du es erst bemerkt: Der Mann sprach nicht nur druckreif, sondern trotz seines ruinösen Gebisses auch in einem herrlichen alten Bühnenenglisch. Stil- und zielsicher. Du nimmt den „Penner“ zurück. Laurence Olivier als versoffener irischer Wiedergänger.

Immer noch viel Zeit bis zum Konzert. Am Grab von Jonathan Swift in der St. Patrick’s Cathedral. Eine schmucklose Platte im Boden; dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod 1745, war Gullivers geistiger Vater hier Dekan. Die große Kirche ist voll mit Gräbern, Soldaten des British Empire. Die Inschriften dröhnen von Schlachtfeldern Indiens, Afrikas, wer weiß wo. Und über diesen stillen Lärm der Kirche legt sich jetzt wundervoll leichte Orgelmusik, du kannst endlich einschlafen. Vielleicht eine halbe Stunde später – Zeit jetzt, sich zu Cohen auf den Weg zu machen – zupft dir jemand am Ärmel, ein junger Priester, und fragt, ob du am Gottesdienst teilnehmen und dich in die vorderen Reihen setzen möchtest.

„I stepped into this empty church / I had nowhere else to go.“ Nachher werden wir – achttausend älter gewordene Pilger – auch diesen Vers hören, in dem Song „There ain’t no cure for love“. Kann ein Dichter überhaupt ein Comeback feiern? Unsinn, denn wenn ein Dichter wirklich ein Dichter und Sänger ist wie Cohen, dann bleiben seine Lieder immer im Äther, irgendwo, auf näheren oder ferneren Wolken.

„Suzanne“ singt er auch, aber bei seinem „Halleluja“ lösen sich die Zungen. Es sind die am häufigsten gecoverten Cohen-Songs, häretische Hymnen auf Sex und Religion, Gott und die Geliebte. Die Iren singen mit: „Halle-lu-ja, Halle le-luja“. Ein traumhaftes Konzert. Aber das war schon klar, das stand fest, nach der Vorgeschichte in der Dubliner Fußgängerzone und in St. Patrick’s: An diesem Tag war die Stadt voller kleiner, würdevoller Vorzeichen. Einige Monate später sollte sich das Wunder in Berlin, in der neuen Arena am Ostbahnhof, wiederholen. Die Tournee des 74-Jährigen wird zum Triumph.

Christoph Schlingensief, Duisburg, 21. September 2008, Industriepark Nord.
Christoph Schlingensief ist 47 Jahre jung und schwerkrank. Er hat Krebs und nur noch einen Lungenflügel. Das gesamte Jahr war von der Frage überschattet: Wie geht es Christoph Schlingensief? Ein verflucht hoher Preis, den er da bezahlt, um das Image des Enfant terrible – ein grauenvolles Wort –, des Schwiegermuttertyps und Grenzenüberschreiters und Provokateurs und was nicht alles sonst noch loszuwerden. Und jetzt soll er schon wieder für etwas stehen. Dafür, dass man die Beliebigkeit und den Zynismus des Kultur betriebs restlos satt hat. Dass Kunst zählt. Jeder Ton, jedes Wort, jeder Schritt.

„Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“: ein Kampf um Schönheit und Würde, in den aufgelassenen Ritualen des Katholizismus, der ja immer schon empfänglich war für Voodoo und andere Opferzeremonien. Duisburg wird zum Schlingensief’schen Oberammergau. Schwerindustrie und Christentum, vereint im Phantomschmerz.

Wie geht es Christoph? Wenige Wochen später zeigt er im Maxim-Gorki- Theater in Berlin eine Art Studiofassung seiner Ruhrgebietskirche. Nichts mehr vom kämpferischen Optimismus. Schlingensief kommt kurz auf die Bühne und sagt, die neuen Befunde seien schlecht. Im Dezember sagt er in einem Gespräch mit dem „Spiegel“ , er habe Metastasen.

Im April die umjubelte Uraufführung der „Heiligen Johanna“ von Braunfels an der Deutschen Oper Berlin. Christoph Schlingensief verfolgt und dirigiert die Inszenierung vom Krankenbett aus. Warum verschwindet ein solches Meisterwerk so schnell wieder vom Spielplan? Anfang 2009 will Schlingensief nach Afrika reisen, um nach einem geeigneten Platz für sein äquatoriales Opernhaus zu suchen. Ein Wunsch fürs neue Jahr? Dass wir niemals aufhören zu fragen, wie es ihm geht.

Stockhausen und Messiaen, Berlin, 23. September 2008, Flug hafen Tempelhof. Jürgen Goschs Tschechow-Jahr. 

Alsbald würde hier Schluss sein mit dem Flugbetrieb. Die erbitterte Pro-Tempelhof-Kampagne, die Volksabstimmung, wie lang und steinig ist der Weg Berlins zur richtigen Groß- und Hauptstadt, zu der nun einmal ein internationaler Airport gehört.

Im Hangar zwei ein Großkonzert des Berliner Musikfests. Karlheinz Stockhausens „Gruppen“ für drei Orchester, die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Simon Rattle, Daniel Harding und Michael Boder. Musik des Größenwahns in einem der größten Gebäude der Welt. Deutsche Geistesriesen-Gigantomanie. Alex Ross erinnert in seiner enthusiastischen Besprechung des Ereignisses im „New Yorker“ daran, dass die Beatles Stockhausens Kopf auf ihr „Sgt. Pepper’s“-Cover setzten, inmitten so vieler Popidole. Und dass Stockhausen die Zerstörung der New Yorker Twin Towers am 11. September 2001 als „luziferisches Meisterwerk“ bezeichnet hatte. Ross (nicht nur er) ist am Ende überwältigt: Er habe den Urknall des Universums rückwärtslaufen gehört, zurück zu dem „göttlichen Funken, mit dem alles begann“.

Musik des Universums? Dann konntest du, umgeben von Musik und Musikern, auch hören, dass es zärtliche Sterne gibt. Das spitzige Gekrache der Avantgarde – geschenkt! Manchmal klingt Stockhausen (und nicht nur er) so, als klingele es an der Haustür, und jemand lässt eine Batterie von Tellern, Töpfen und Besteck fallen, um öffnen zu können. Das Universum ist still, wenn es denn einen Klang hat. Wie in Olivier Messiaens „Et Exspecto Resurrectionem Mortuorum“, das Rattle mit den „Gruppen“ gepaart hat.

Olivier Messiaens 100. Geburtstag liegt erst ein paar Tage zurück. Mit seinem Namen verbindet sich eine heftig wieder aufgeflammte Sehnsucht nach dem Spirituellen in der Kunst. Messiaen hören. Aus den Canyons zu den Sternen. In Erwartung der Auferstehung der Toten. Schon wie er seine Kompositionen tauft, ist magisch.

Und du erinnerst dich, schlagartig, da Messiaen im Flughafenhangar verklingt. An den letzten Akt des „Onkel Wanja“ im Deutschen Theater Berlin. Jürgen Goschs Tschechow, die Inszenierung des Jahres. Das sagt sich so leicht und schmeckt irgendwie schal kulturbetrieblich. Denn hier, Premiere war im Januar (danach kam in diesem Theaterjahr nicht so viel), ist ein Wunder geschehen. Die Zeit hält an. Die Luft vibriert. Die Schauspieler hören auf zu spielen, sie haben etwas gefunden; im Text, in der Regie, wer weiß.

Etwas tief Erschütterndes: Mensch liches Leid, menschliche Größe, etwas Unabweisbares transzendiert Bühne und Zuschauerraum. „Wir werden ausruhen“, heißt es am Ende in Peter Urbans Übersetzung. „Wir werden ausruhen.“ Und du weißt nicht, ob Meike Droste und Ulrich Matthes diesen Satz wirklich gesagt haben. Die Aufführung entwickelt seither einen solchen Sog, dass sie stetig über sich und das Theater hinauswächst. Was eigentlich gar nicht zu Tschechow passt, oder? Er ist der Dramatiker mit der lustig- melancholischen Maske. Dahinter Nacht und Schatten. Und ein Lachen. Die Maske wird immer dünner und durchsichtiger über dem gezeichneten Gesicht.

Vier Tage vor Weihnachten beschließt Jürgen Gosch mit dem Deutschen Theater in der Volksbühne das Jahr. „Die Möwe“. Wieder Tschechow. Wieder ein Meisterwerk. Das Herz geht über, und die Worte gehen dir aus, bei diesen sich häufenden Einschlägen. Jürgen Gosch leidet an einer schweren Krankheit.

Heath Ledger, ein Kino, irgendwann in der zweiten Hälfte 2008.
Vita brevis, ars longa. Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst. Ein Scheißspruch, aber Widerstand scheint zwecklos. Ledger starb am 22. Januar 2008 mit nicht einmal 29 Jahren. Mit ihm begann das Jahr der schlimmen Nachrichten. Und dann siehst du auf der Leinwand dieses Gesicht: grelle Clownsschminke über tiefen, bizarren Narben. Es ist, auf seine Weise, das Gesicht des Jahres. Heath Ledger in seiner letzten Rolle als Joker in dem Batman- Film „The Dark Knight“.

Der Joker verbrennt Geld in riesigen Mengen, er zündet es an mit einem Lachen – ein Prophet. Er erschüttert das Gerechtigkeitsgefühl einiger hundert Geiseln auf einem Fährschiff mit einer einfachen Alternative: Sie sterben – oder die anderen. In Christopher Nolans Film bestehen die Amerikaner die Probe.

Batman ist uninteressant. Ledgers Joker geht wie ein Messer durch die Welt: elegant, mit fürchterlicher Grimasse, ein Schmerzensmann. Eine tolle Show: Actionkino als Fegefeuer. Der Joker spricht gewähltes Shakespeare-Idiom, er ist Hamlet und Macbeth, Othello und Jago, Richard III. und Lears Narr in einer Person. Niemand vermag die Frage wirklich zu beantworten, wie und warum Heath Ledger starb. Ob er sich bei den Dreharbeiten in der Obama-Stadt Chicago seiner grandiosen Abschiedsvorstellung bewusst war.

Der Akrobat stürzt vom Hochseil. Der Gedanke, dass Kunst, die mit geringerem Einsatz spielt, dich nicht bewegt – dieser Gedanke ist unerträglich.

Nein, halt, stopp. Es geht weiter. Der Joker stirbt nicht in dem Batman-Film. Allerletzte Einstellung: Er hängt an einem Hochhausfenster über dem Abgrund. Unsterblich.

Rüdiger Schaper

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