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Kultur: Ruhm-Service

Düstere Kindheit: Tokio Hotel suchen mit ihrem zweiten Album „Zimmer 483“ international Erfolg

Dumpf dröhnt ein Ventilator, Heißluft strömt in die mit schwarzem Stoff abgehängten Katakomben unter dem Potsdamer Platz, wo Tokio Hotel vor geladenen Gästen ihre am Freitag erscheinende zweite Platte „Zimmer 483“ vorstellen. Es ist nicht eben lauschig in diesem düsteren Keller aus unverputztem Beton, den auch die zahlreichen TV-Kameras nicht in etwas anderes als eine Baustelle verwandeln. Aber das sollen sie auch nicht. Von Ferne weht immer wieder ein schrilles Geräusch in die Unterwelt, als würde der Luftzug durch eine undichte Tür zu entweichen suchen. Es sind kreischende Mädchen. Eine Horde von ihnen irrt aufgelöst durch die weitläufigen Gänge des Bahnhofs – ihre Helden sind hier, irgendwo. Sie heißen Bill und Tom Kaulitz, Gustav Schäfer und Georg Listing und sind die Teenie-Stars der Stunde. Das Kreischen begleitet sie überall hin wie ein Schwarm Sturmvögel.

„Achtung, fertig los und lauf/Vor uns bricht der Himmel auf“, knallt die erste Single aus den Boxen. Das Lied heißt „Übers Ende der Welt“, seine Botschaft: „Wir schaffen es zusammen“, überspringen den Abgrund, während die Welt „hinter uns zerfällt“. Der Song ist ein Meisterwerk an Teenager-Dramatik. Aus ein paar hart angeschlagenen Achtel-Akkorden entwickelt sich ein wuchtiger E-Gitarren-Brei, der im Refrain zur Melodie findet. „Wir“, singen Tokio Hotel und imaginieren eine Gemeinschaft der Ausgestoßenen, zu der sie auch gehören. „An deiner Seite (ich bin da)“ heißt eines ihrer neuen Lieder. Ein anderes, „Spring nicht“, geht sogar so weit zu versprechen, dass in den düstersten Stunden, wenn man am liebsten Schluss machen will, einer da ist, der „dich“ festhält – notfalls auch selbst springt, „für dich“.

Das sind kraftvolle Trostmomente für die Sechs- bis Dreizehnjährigen, die den harten Kern der Tokio-Hotel-Begeisterung ausmachen. Mit einem Budget von etwa 5,5 Milliarden Euro im Jahr 2005 ist diese Altersgruppe in Deutschland ein wichtiger Konsumfaktor, auch wenn nur 15 Prozent des Geldes für Musik-CDs ausgegeben werden (61 Prozent gehen für Süßigkeiten drauf). Allerdings treten Kinder der Musikbranche in diesem Alter noch als geschlossene Gruppe gegenüber. Erst mit der Pubertät, wenn sich Rollenmuster festigen, wandern sie in geschlossene Teilmärkte wie die Streetwear-Kultur, Heavy Metal und Gothic ab. Tokio Hotel stellt da wichtige Weichen. Keine andere Band hat die Ergebnisse der jüngsten Shell-Jugendstudie so verinnerlicht, der zufolge die Zukunftsangst unter Jugendlichen rapide zunimmt. Sie liefern den Soundtrack für emotionale Schutzräume.

Vom Debütalbum „Schrei“ haben Tokio Hotel 1,5 Millionen CDs verkauft und ein Vermögen mit der Tournee verdient, zu der 350 000 Menschen kamen. Über ihre Musik wird dabei nie geredet. In einem Videoclip sagt ein Mädchen: Tokio Hotel seien so, „wie Jungs sein sollen“. Mehr bedarf es eigentlich auch nicht, um das Phänomen zu erklären. Denn obwohl die Band, die 2001 in Magdeburg unter dem Namen Devilish zusammenfand, keine Boygroup ist, verkörpern die vier Burschen eine breite, spannungsreiche Palette jugendlicher Rollenmodelle. Da ist Bassist Georg, der mit 19 Jahren Älteste, der Britpop mag, meistens schweigt und alles zu durchdringen scheint, aber sich vor lauter Schüchternheit am liebsten unsichtbar macht. Außerdem Gustav, 18, Schlagzeuger, Punk-Fan und eine Art Samweis Gamdschi des Unternehmens, an dessen treuem Mondgesicht jeder Starruhm abzuperlen scheint. Schließlich die exzentrischen 17-jährigen Zwillinge Tom an der Gitarre und Bill, der Sänger: zwei Styling-Götter ihrer Generation. Wobei Tom mit seinen Dreadlocks und dem lässigen Hip-Hop-Gebaren deutlich rebellischere Züge trägt als der im Dauerrampenlicht stehende Bruder. Der ist ein irritierend geschlechtsloses Geschöpf, mit Porzellanhaut und einer prachtvollen Simba-Mähne, die das überzeichnete Manga-Image der Band weitertreibt.

Wenn Bill den Mund aufmacht, und das tut er praktisch ständig, dann sprudeln die Sätze nur so aus ihm heraus. Seine Gefühlswelt, die in letzter Zeit immerhin verkraften musste, als größter Newcomer des Landes zu gelten, fließt ungefiltert ins Freie, weshalb er auf Mädchen wie der Gefährte wirkt, vor dem man keine Angst haben muss, im Gegenteil, er selbst weckt Beschützerinstinkte wie ein aussterbendes Fabelwesen.

Tatsächlich fühlte sich Bill Kaulitz schon als Neunjähriger zum Popstar berufen. Doch bei der Sat 1-Castingshow „Star Search“ sah man das 2003 anders. Der schmächtige Knabe wurde vorzeitig aussortiert. Vielleicht hätte er im Faltenrock und mit Ringelsöckchen auftreten sollen wie bei dem Magdeburger Bandwettbewerb im selben Jahr, von dem ein Foto zeugt. Schon früh zeigte Bill ein Gespür für transsexuelle Verwirrspiele, was ihn seinen männlichen Altersgenossen äußerst suspekt macht. Die vielen Parodien und Schmähungen belegen es. In der Band hat David-Bowie-Fan Bill das Vehikel für seine Obsession gefunden. Um mehr als Selbstdarstellung geht es nicht.

Trotzdem sagen Tokio Hotel nicht: Pop macht Spaß. Im Gegensatz zu Jugendgruppen wie Monrose, US 5 oder Sunrise Ave. verbreiten die Kaulitzbrüder und ihre Mitstreiter, allesamt im Schatten einer Kalisalz-Abraumhalde aufgewachsen, das düstere Image einer verlorenen Welt. Liebesschwüre („Du wirst für mich immer heilig sein“) wechseln mit Heroinsucht und Überdosis („Stich ins Glück“); „Totgeliebt“ ist eine sägende Liebeskummer-Ballade; nur in „Ich brech aus“ versucht die Band mit rasenden Unisono-Riffs in härtere Crossover-Gefilde vorzustoßen, muss sich aber zügeln. Man ahnt, so würde die Gruppe wohl gerne klingen, wenn sie dürfte. Gibt es hinter den oberflächlichen Adoleszenzhymnen etwas, das sein Geheimnis nicht preisgibt?

Für den „Stern“ sind sie „Nirvana für Teenies“. Was an der Sache denn doch vorbeigeht. Denn auch für Tokio Hotel gilt die alte Popweisheit: Jugendtrends werden von alten Männern gemacht, für die Jugend eine Fiktion ist, umso wirkungsvoller je weniger man von ihr betroffen ist. Für „Zimmer 483“ haben Tom und Bill Kaulitz nur einen der zwölf Songs selbst geschrieben. Der Rest stammt aus der bewährten Feder des vierköpfigen Produzententeams um Tokio-Hotel-Entdecker Peter Hoffmann. Das neue Album soll den internationalen Durchbruch bringen. In Osteuropa und Frankreich hat die Band bereits viele Fans. In Russland steigt sogar die Nachfrage an Deutschkursen. Als Nächstes soll der angelsächsische Raum folgen. Den von Deutschland aus zu erobern, haben zuletzt nur Rammstein geschafft.

Aber Tokio Hotel haben gute Chancen: Wie Meteoriten schlagen die verschatteten Songs von Hoffmann & Co zwischen den Scheidungs-, Schlüssel- und Patchworksprösslingen ein, die durch E-Mails ein Lied wie „Vergessene Kinder“ erst anregen. Nicht zuletzt wegen der anhaltend intensiven Berichterstattung in Magazinen wie „Popcorn“ und „Star Flash“ werden die Musiker als intime Vertrauenspersonen erlebt. Vor allem Marktführer „Bravo“, dessen Auflage im 2. Quartal 2006 dank der Band um 12,5 Prozent anstieg, inszeniert sie wie Figuren einer Sitcom. Erst darf Bill erzählen, dass er seit zwei Jahren kein einziges Mädchen mehr geküsst hat, dann berichtet sein Bruder detailliert von der Nacht, in der plötzlich ein Mädchen vor seiner Zimmertür stand („So ist Sex mit einem Fan!“). Das ist angewandte Aufklärung.

In der Regel überleben Bands wie Tokio Hotel die Euphorie, die sie entfesseln, nicht lange. Die Teens verschwanden in den Achtzigern ebenso spurlos wie Echt ein Jahrzehnt später. Doch Tokio Hotel sind auf Pragmatismus getrimmt. „Heute sind wir hier/ Die Welt bleibt vor der Tür“, heißt es im 4. Song des Albums, der Refrain lautet: „Wo sind eure Hände?“ So erspart sich die Band, auf der Bühne erst erklären zu müssen, was sie vom Publikum erwartet. Das strömt schon konditioniert in die Hallen. Music is the first thing

Tokio Hotel spielen am 26. April im Berliner Velodrom.

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