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Landmarke fürs Revier. Markus Lüpertz’ „Herkules von Gelsenkirchen“. Foto: dapd

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Kultur: Ruhr in Frieden

53 Freunde sollt ihr sein: Was das Kulturhauptstadtjahr 2010 Essen und Co. gebracht hat

Fragt man Oliver Scheytt, woran sich der Erfolg des deutschen Kulturhauptstadtjahres festmachen lässt, erzählt er gerne die Geschichte von den T-Shirts. „Als im Juli drei Millionen Menschen zum Straßenfest auf die A 40 kamen, waren die Shirts der Merchandising-Renner“, schwärmt der langjährige Essener Kulturdezernent, der gemeinsam mit Fritz Pleitgen „Ruhr 2010“ gemanagt hat. Unzählige Besucher marschierten mit einem Slogan auf der Brust über die Asphaltpiste: „Woanders is auch scheiße.“

So funktioniert Selbstbewusstsein im Pott. Schließlich hat der europäische Ehrentitel das Ruhrgebiet nicht wirklich schöner gemacht. Mögen 2010 auch diverse Kulturneubauten eröffnet oder zumindest begonnen worden sein, die 5,3-Millionen-Einwohner-Agglomeration zwischen Hamm und Moers wird weiterhin geprägt von der „grauen Architektur“. Jener radikal zweckmäßigen Massenbauweise, die der Kunsthistoriker Benedikt Boucsein in einer gerade erschienenen wissenschaftlichen Analyse „die Drecksarbeit der Moderne“ nennt. Darum hat das neue Ruhrmuseum die genormten Zechenhäuschen aus der Hochphase der Industrialisierung wie auch die gesichtslosen Wohnblocks des Wiederaufbaus ganz offensiv in seine Präsentation integriert: Auf dem hoch spannenden Parcours durch die Historie der Bergbauregion begegnet man also nicht nur Schimanskis Jacke oder der faszinierend vielfältigen Fauna, die sich als Folge des internationalen Warenhandels auf den Industrieflächen ausgebreitet hat, sondern eben auch jenen grässlichen Vorortsiedlungen, die hier weite Teile der zersiedelten Stadtsteppe bedecken.

Sollten die Revierbewohner früher im Urlaub ihren Wohnort nennen, murmelten sie meist verschämt etwas wie „in der Nähe von Düsseldorf“. Diese Zeiten sind vorbei. Nach einem Jahr Kulturhauptstadt darf man wieder aus Wanne-Eickel kommen oder aus Oer-Erkenschwick. Die Aufmerksamkeit, die den 53 Städten durch „Ruhr 2010“ zuteilgeworden ist, die vielen Reportagen, in denen sich selbst Oberbayern für den „Reiz des Schrägen“ in der Region begeistern konnten, haben tatsächlich ein neues Heimatgefühl geschaffen. Wo man traditionell maximal bis zur eigenen Gemeindegrenze schaut, brauchte es allerdings auch schon eine zwölfmonatige multimediale Dauerbeschallung, um den Bewohnern klar zu machen, wie viel Grün es auf die Gesamtfläche gesehen hier gibt. Und dass sich nicht nur in der eigenen Nachbarschaft, sondern überall aufgelassene Industriebrachen in Landschaftsparks oder gar Kulturzentren verwandeln.

Für gelackte Stadtmarketing-Prosa ist der Ruhri dennoch nicht zu haben. Der offizielle Werbespruch „Kultur durch Wandel, Wandel durch Kultur“ wirkte immer steif, irgendwie am Lobbyisten-Reißbrett entworfen, genauso wie die Idee, Trinkhallen zu Design-Kiosken zu deklarieren oder Kirchen zu „spirituellen Kulturtankstellen“. Nee, Stolz äußert sich hier weiterhin ganz schlicht: „Woanders is auch scheiße.“

„Ruhr 2010“ hat dem schlechten Image des EU-Titels „Kulturhauptstadt“ gutgetan. Hier wurde nämlich keineswegs 365 Tage lang Halligalli für Touristen veranstaltet – und hinterher durften die Einwohner den Müll wegräumen. Okay, den Zuwachs bei den Übernachtungszahlen von 13,4 Prozent hat man auch in der Ruhrmetropole gerne mitgenommen. Aber von ein paar spektakulären Ausstellungen abgesehen war das Programm für die Leute vor Ort gemacht. Die Bürger selber sollten zu Akteuren werden, im Idealfall als aktive Helfer, im Normalfall einfach als Konsument. Dabei reichte es bereits, dass im Schnitt jeder Bewohner der Region zwei der 5000 „Ruhr 2010“-Veranstaltungen wahrgenommen hat, um auf das offizielle Rekordergebnis von 10,5 Millionen Besuchern zu kommen.

Spektakulär waren Events wie die „Schachtzeichen“, bei denen Heißluftballons über allen ehemaligen Bergwerks- Stollen aufstiegen, oder der „Day of Song“, bei dem in der Schalke-Arena 60 000 Laien zum größten Chor der Welt wurden. Auf den Sommertagstraum des „Stilllebens“, das – trotz Grillverbot! – drei Millionen Fußgänger auf die gesperrte Autobahn lockte, folgte das Trauma der Loveparade: Schwer mussten die Veranstalter dafür büßen, dass sie die Fremdveranstaltung aus rein populistischen Erwägungen in ihr offizielles Programmbuch aufgenommen hatten.

Wenn die Tragödie von Duisburg auch einen dunklen Schatten auf dieses Kulturhauptstadtjahr wirft, die Bilanz fällt positiv aus: Das Budget von 61,5 Millionen Euro wurde eingehalten, „Ruhr 2010“ hat infrastrukturelle Investitionen in Höhe von fast einer halben Milliarde Euro in der Region ausgelöst, von der lange versprochenen Bahnhof-Sanierung bis zum Museums-Neubau. Durch Kooperationen sind die Städte näher zusammengerückt, so mancher Kommunalpolitiker hat tatsächlich den Wert der Kultur schätzen gelernt. Darum sieht man in den Kulturinstitutionen dem „Jahr danach“ auch gefasst entgegen. Obwohl 80 Prozent der Ruhrgebiets- Städte einen Nothaushalt haben, glaubt kaum einer, dass jetzt der Sparhammer flächendeckend niedersausen wird.

Wenn denn der „Theaterpakt NRW“ zustande kommt: Dabei würde sich die Landesregierung verpflichten, ihren Kofinanzierungsanteil bei den kommunalen Einrichtungen temporär von mickrigen drei auf 20 Prozent zu erhöhen. Im Gegenzug versprechen Intendanten und Kulturdezernenten, ihre Etats ein weiteres Mal nach Synergie- und Sparpotenzialen zu durchforsten. Für Mitte Januar hat die neue SPD-Kulturministerin Ute Schäfer zur ersten Verhandlungsrunde geladen.

An diesem Wochenende aber will man es zum Finale des Kulturhauptstadtjahrs noch mal richtig krachen lassen. Umsonst, draußen – und wahrscheinlich im Schneegestöber, wie schon bei der Eröffnung. Heute wird im Gelsenkirchener Nordstern-Park eine neue „Landmarke“ eingeweiht, der 18 Meter hohe „Herkules“, den Bildhauer Markus Lüpertz auf einen Förderturm der einstigen Zeche hat hieven lassen. Zu Füßen des Riesen gibt es eine Revue mit Tänzern, Musikern und den schönsten Bildern des Jahres 2010. Parallel wird auch am Duisburger Innenhafen, auf der Essener Zeche Zollverein und am Dortmunder „U“ gefeiert.

Das letzte Wort hat der Fußball. Am Sonntag steigt in Bochum ein Benefiz-Turnier, bei dem jene legendären Teams von Schalke, Borussia Dortmund und VfL Bochum gegeneinander antreten, die 1997 zum Jubeljahr für die Ruhrgebietsvereine gemacht haben. Karitativ kicken am vierten Advent – das geht wirklich nur hier.

Der WDR überträgt das „Ruhr 2010“-

Finale ab 17. 15 Uhr.

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