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Russisch verstehen ist nicht nur in Blumenschrift schwer. Immerhin kann man mit "Russisch Fluchen" den nicht jugendfreien Worten aus dem Riesenreich auf den Grund gehen.

© Reuters

Russisch Fluchen: "Man könnte Sie verstehen, wo Sie es gar nicht vermuten!"

Wladimir Sergijenko gibt einen humoristischen Einblick hinter die Kulissen einer Sprache, die vor Schimpfworten nur so strotzt. "Russisch Fluchen" erscheint im März. Lesen Sie hier das Kapitel "Paranoia geht immer".

"Paranoia geht immer". Lektion Nr. 7: Bljad!

Wenn ein Mensch ohne die Hilfe von Psychologen und Priestern auskommt und ohne Stimmen im Kopf, die ihm beständig was zuflüstern, und wenn die finanzielle Lage belastbar ist, geht es ihm gut. Auch dann noch, wenn die Existenz finanziell auf nicht ganz so festen Füßen steht, er aber immer noch ohne Hilfe von Psychologen, Priestern und flüsternden Stimmen funktioniert. Die ungeschminkte Wahrheit aber ist: Bis zur endgültigen und unumkehrbaren Vergreisung ist es nur ein Katzensprung. Kein regelmäßiges Sexleben, auch keins in Sicht. Aus der politischen Karriere ist nichts geworden – sein Hirn zu verkaufen, wie andere ihren Körper, wäre ja wohl das Letzte. Von der einstigen Schönheit ist nur noch in den Augen etwas zu erahnen, vielleicht noch im tiefen Dekolleté. Strengste Disziplin ist nötig, um nicht vollständig den Verstand zu verlieren: Montag: Heißes Bad im Kerzenschein, Anruf beim Tarot-Service, Kohl / Dienstag: Gruppensitzung bei den Anonymen Kleptomanen, Huhn oder Ei / Mittwoch: Besuch beim achten Avatar des Vishnu, Käse mit Honig zum Frühstück / Donnerstag: Halbe Stunde beim Psychotherapeuten, alkoholfreies Bier / Freitag: Synagoge, keine Kohlenhydrate / Samstag: Nur Yoga, aber Selbstbelohnung mit Hochprozentigem / Sonntag: Orthodoxe Kirche, Gebäck, Sauna, Wodka. Wenn sich’s ergibt: Sex. Aber normalerweise ergibt es sich nicht. Alternativprogramm: Hockey, NHL, KHL und die übrigen Regionalligen, die Tänze der Klitschko-Brüder im Ring in einem illegalen Mitschnitt im Internet und sogar … ich weiß gar nicht, ob ich es sagen soll … die Life-Übertragung der offenen Meisterschaften aus Süd-Korea im »Go« oder »Sudoku«.

Diese Flut an Informationen brach über mich herein im Verlauf von 20 Minuten. Ich sollte hinzufügen, dass meine zufällige Gesprächspartnerin weder Gift noch Galle spuckte und auch sonst nichts Böses ausstrahlte. Wir saßen im Wartezimmer der Notaufnahme in einem der Hauptstadtkrankenhäuser der Bundesrepublik Deutschland. Ich hatte mich mit starken Halsschmerzen und hohem Fieber eingeliefert. An einem Wochenende, wenn der Hausarzt nicht im Dienst ist, ein Rezept für ein Antibiotikum zu bekommen, war nur in der Notaufnahme möglich. Als ich mit dem Krankenhauspersonal redete, hatte die Frau am Akzent in mir den Landsmann erkannt und sofort Kontakt aufgenommen. Sie hatte sich neben mich gesetzt und keine Sekunde mehr aufgehört zu reden. Ich erfuhr alles über die Enkel ihrer Nachbarn, die Hunde ihrer Feinde und sogar, an welchen Tagen sie Migräne hatte. Aus Erfahrung wusste ich, dass es im Wartezimmer Stunden dauern konnte, und weil man davon ausgehen muss, dass manche Menschen in Stress-Situationen einfach überreagieren, deutete ich mit keinem Wimpernzucken an, dass diese Unterhaltung für mich eine Belastung war. Sie wartete auf ihren Sohn oder Schwiegersohn – ich hörte nicht immer so genau zu.

Die Falschspieler-Gewerkschaft auf Facebook

Wenn ich es richtig verstand, war das ein genialer Mensch, der eine Menge supergenialer Erfindungen gemacht hatte, aber sich nicht eine davon hatte patentieren lassen. Lange Schläuche auf den Straßen, gespickt mit kleinen Dynamos, die Strom erzeugten, wenn Regenwasser in die Kanalisation floss. Oder Millionen von Chinesen, die bei sich zu Hause mit ihren Fahrrädern Dynamos antrieben und damit Akkumulatoren aufluden, die dann per Frachtschiff in die Europäische Union transportiert würden. Oder riesige Zellophanzylinder, die kilometerlang in die Höhe reichten und nach dem Schornsteinprinzip den Smog aus den Straßen absaugten. Manche Ideen waren kriminell. Zum Beispiel, mithilfe von Facebook eine Gewerkschaft der Falschspieler zu gründen und so aus den Casinos ein paar Millionen rauszuholen. Manche Ideen waren kreativ, zum Beispiel, den Fernsehturm am Alexanderplatz in den Tagesstunden als Sonnenuhr zu verwenden und in der Umgebung riesige Ziffern an die Häuser zu hängen, im Stil von Salvador Dalí. »Wenn Sie ihn nur hören könnten, dann würden Sie verstehen, wie viel Nutzen er der Menschheit bringen könnte. Er kennt zum Beispiel die Ursachen für die Korruption und wie man sie bekämpfen muss. Sehen Sie, ich kann das nicht so gut erklären wie er, aber ich versuche es mal. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind ist in Schwierigkeiten. Mit der Polizei! Nichts Schlimmes, aber unangenehm. Und Ihr alter Klassenkamerad arbeitet im Polizeirevier, genau in jenem, in das man Ihren Sohn gebracht hat. Werden Sie nun Ihren alten Freund anrufen und bitten, die Sache ohne Protokoll aus der Welt zu schaffen? Oder wenn Ihr Kind an einer Elite-Schule aufgenommen werden will, und das alles entscheidende Gespräch führt Ihr Klassenkamerad, oder sagen wir, ein Verwandter aus der mütterlichen Linie. Machen Sie es? Versuchen Sie, Ihrem Kind zu helfen?« Sie forderte eine Antwort. Meine Körpertemperatur war kritisch. Schlucken tat weh. Die Augen taten weh. Aber ich nickte tapfer. »Und sagen Sie, wenn irgendein naher Verwandter stirbt, weinen Sie dann? Sind sie durcheinander?« Wieder schaute sie mich in Erwartung einer Antwort an. Ich nickte abermals. »Na also!«, tönte sie zufrieden. »Daher kommt die ganze Misere. Wir sind zu sehr verwandtschaftlich verstrickt. Diese Verbindungen übertragen wir in unsere sozialen Netze und in unser Denken. Aber wenn Ihnen Ihr Sohn egal wäre, dann würden Sie sich nicht bei Ihrem Freund für ihn einsetzen.« Ich hätte gerne gesagt, dass ich keinen alten Klassenkameraden bei der Polizei habe, aber ich nickte nur noch mal mit dem Kopf. »Wenn Sie lernen, Ihre Eltern zu Grabe zu tragen, ohne dabei eine Träne zu vergießen, dann sind Sie im Kampf gegen die Korruption einen Schritt weiter. Ist er nicht ein helles Köpfchen?« Von neuem nickte sie in Richtung der Türen, hinter denen medizinische Hilfe geleistet wurde, und schaute mich an. Ich nickte wieder. Die Frau war nicht besonders erregt, sie sprach nur in zungenbrecherischer Geschwindigkeit. Die Zahl der Leute, die medizinische Hilfe benötigten, schmolz sehr langsam zusammen. Wie lange man noch zu warten hatte, war unklar, dafür war hinlänglich klar, dass sie nicht schweigen würde. »Sehen Sie mal, kennen Sie die Theorie über den ›Blumeneffekt‹?« »Nein, kenne ich nicht«, fand ich die Kraft, flüsternd zu antworten. »Na, woher auch«, verkündete meine Gesprächspartnerin herablassend. »Die Theorie vom ›Blumen­effekt‹ hat auch er sich ausgedacht.« Die Frau nickte vielsagend in Richtung Tür, hinter der die Patienten verschwanden. »Der ›Blumeneffekt‹, das ist ein psychologischer Aspekt des Familienlebens. Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihrer Frau schon lange keine Blumen mehr geschenkt. So lange, dass sie sich nicht zurückhalten kann und Sie darauf hinweist. Sie akzeptieren den Vorwurf, aber Sie überlegen sich: Wenn Sie die Blumen nun gleich kaufen, muss es so aussehen, als hätten Sie sie nur wegen des Hinweises Ihrer Frau gekauft. Deshalb beschließen Sie, die Blumen zwar zu kaufen, aber erst dann, wenn die Szene vergessen ist und es Ihrer Frau so erscheinen muss, als hätten Sie die Blumen aus freien Stücken gekauft. Es vergeht also einige Zeit, und Sie vergessen es wieder. Sie haben’s verschwitzt, zu viel gearbeitet. Und wieder erinnert Ihre Frau Sie an die Blumen. Wieder kaufen Sie keine, aus demselben Grund. So geht das eine Ewigkeit. Die negative Stimmung verstärkt sich. Sie leiden darunter. Ihre Frau leidet darunter. Wären Sie vertraut mit der Theorie des ›Blumeneffekts‹, dann wären Sie gleich nach der Erinnerung losgelaufen und hätten Blumen gekauft. Ihre Frau wäre zufrieden gewesen, und Sie hätten sich keine schlimmen Worte anhören müssen.«

Paranoia für Anfänger

Meine erhöhte Temperatur stach mir mit Schüttelfrost in alle Glieder, Knochen und Blutgefäße. Die Worte dieser Frau rammten sich wie angespitzte Pfähle in mein glühendes Hirn. Ich wünschte mir so sehr, sie würde aufhören. Ich wünschte mir, so bald wie möglich ins Sprechzimmer gehen zu können, durch die Tür, hinter der sie ihren Sohn-oder-Schwiegersohn verarzteten. »Wissen Sie …« Wie ein Möbiusband hörte die Stimme der Frau nicht auf, mein Trommelfell zu zersägen. Manchmal hörte ich sie nur, manchmal hörte ich sogar zu. Manchmal nickte ich, vielleicht nicht immer im richtigen Takt. Als sie anfing zu erklären, warum ihr Sohn-oder-Schwiegersohn Prostituierte höher schätzte als andere Frauen mit leichtfertiger Gesinnung, platzte mir der Kragen. Nicht, weil mir der Unterschied zwischen denen, die regelmäßig Männer abschleppen, und denen, die Geld verdienen, indem sie praktisch dasselbe tun, nicht klar wäre. Das Problem war auch nicht, dass es mir körperlich schlecht ging. Das Problem war, dass ich dieses Geräusch nicht mehr ertragen konnte. Den Klang ihrer Stimme. Zwischen den Lippen presste ich hervor: »Bljad, sei doch mal still.« Die Frau schaute mich an, und natürlich hatte sie verstanden, was ich gesagt hatte. Ihr zu erklären, dass ich damit nicht sie persönlich gemeint hatte, wäre dumm. Zu erklären, dass dieses Wort wie eine Vorsilbe mit jedem beliebigen Wort und in jedem beliebigen Satz verwendet werden kann, wenn ein Mensch verärgert ist oder wenn sein Intellekt von ständigen Besäufnissen mit Neandertalern völlig verroht ist, wäre nicht weniger dumm. Sie verstand genau, was los war. Meine Gedanken hingegen waren wirr, lauter lose Enden. Das Wort »bljad« bezeichnet eine Frau, mit der man problemlos in geschlechtlichen Kontakt treten kann. Und es wird sogar in dieser Bedeutung verwendet. Aber viel öfter noch wird es ohne jede Bedeutung verwendet, und zwar überall. Ich, bl…, werde jetzt aufstehen, bl…, und diese Nachtwächter bl… am Empfang fragen, warum ich immer noch nicht dran bin. An diesen Gedanken klammerte ich mich wie an einen Rettungsring und entschied augenblicklich, dass ich mich aus der Situation nur rauswinden konnte, indem ich das laut wiederholte, was ich eben nur durch die Lippen gepresst hatte, aber in anderer Variante: »Bljad! Komm ich heute noch irgendwann dran?« Ohne wegen meines Fluches mit der Wimper zu zucken, verkündete die Frau, dass sie das klären würde und sprang auf. Als sie nach einigen Minuten zurückkehrte, überbrachte sie die Mitteilung, dass man mich bald, sehr bald schon aufrufen würde. Aber solange ich noch hier wäre, würde sie mir etwas zeigen. Ich erinnere mich nicht genau, ob sie das Notizbuch aus ihrer Handtasche oder irgendeiner Hosentasche zog. Sie schlug es auf, blätterte kurz und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle, drückte es mir in die Hand und sagte: »Lesen Sie!« Das Notizbuch, stellte sich heraus, war auch eine Erfindung, ein Lehrbuch »Paranoia für Anfänger«. Ich wusste schon, dass ich ein Buch über russische Schimpfwörter schreiben würde. Als ich dieses Material sah, war mir sofort klar, wie wertvoll dieser Text war. Ich führe hier einige Auszüge an, die ich im Kopf behalten konnte.

Eingeschränkte Paranoia

Projekt: Eingeschränkte Paranoia, Zweiter Beweis

Wednesday, September 4th, 12:25 am: Was macht es schon, wie alt ich bin oder womit ich mich bisher beschäftigt habe … ich bin stark, schlau und sehr wachsam. In letzter Zeit sind sie aktiv geworden. Suki! Sie auf frischer Tat zu ertappen, ist mir noch nicht gelungen. Ich will das auch nicht. Es würde das Spiel beenden, das ich nicht angefangen habe … (weiter sehr unleserlich)

Thursday, September 5th, 12:31 am: Ich habe dem Psychologen erzählt, was ich sehe, was ich fühle, aber kein Wort darüber, was ich weiß. Ich habe Erkundigungen eingeholt, man kann ihm trauen, abgesehen davon, dass er ein Mudak ist. Wenn er zu ihnen gehört, bin ich einen Schritt voraus. Die Trümpfe sind in meiner Hand. 1. Sie werden eine Bescheinigung haben, dass ich nicht ganz normal bin. 2. Sie werden herausfinden wollen, was ich weiß (ha-ha!!!). Wenn er keiner von ihnen ist, bin ich zwei Schritte voraus, und wer am Ende schneller sein wird, ist noch lange nicht klar! (wieder unleserlich) Der Psychologe scheint ein kultivierter Mensch zu sein, ob er nun einer von ihnen ist … Hat sich alles angehört, zum Psychiater hat er mich nicht überwiesen (!!!). Er hat vorgeschlagen, dass ich ein Tagebuch führen soll (sehr schlau!!). Und es dann gemeinsam zu lesen (gemeinsam!). Bljad!

Saturday, September 7th, 4:58 pm: Gestern nichts geschrieben. Zu Hause gelegen, nachgedacht. Habe beschlossen, objektiv zu sein in dem Sinne: Es gibt nur das, was es gibt, keine logischen Schlussfolgerungen! Ob ich mir alles eingebildet habe … Wir werden ja sehen, ob das alles chujnya ist oder nicht. Step by step. Heute gehe ich auch nirgendwohin, mal sehen, ob ihre Geduld reicht. Wenn nicht, müsste es an der Tür klingeln. Es ist Samstag, der Postbote kommt nicht. Die Nachbarn sind übers Wochenende weggefahren. Ich warte, ich warte … 8:58 pm: Sollte ich wirklich falsch liegen? Die Fenster sind alle zugezogen, sehen kann mich keiner, der Stromzähler läuft nicht, alles abgestellt. Wasser? Nein, habe ich nicht benutzt. Ich trinke nichts, esse nichts, um nicht zu müssen … Ich bewege mich nicht, Geräusche gleich null. Habe ich mir das wirklich alles nur ausgedacht … was für ein Pisdez … Ich warte … Ich warte …

Sunday, September 8th, 12:02 am: Oh, ochuitelnaja Idee! Ich will fressen. Ich geh jetzt und fresse was … Wahrscheinlich hat der Psychologe recht, ich lese das in ein paar Monaten und lache darüber.

3.55 pm: Gestern kam die Schwiegermutter, sagte, ich ginge nicht ans Telefon, sie dachte, es sei wer weiß was passiert. Brachte Borschtsch mit. Lecker. Habe lange versucht, sie zu überreden, als Erste zu kosten. Dann frei heraus: Na was, vergiftet? … Wir lachten, sie setzte sich sofort hin und aß. Wenn sie dachte, mir wäre was passiert, wozu bringt sie dann Borschtsch mit? Ich verdächtige die Schwiegermutter nicht. Aber sie hätte schon Gift reintun können. Kenn einer seine Schwiegermutter … (unleserlich)

Es gibt sie nicht... Pisdez!

Monday, September 9th, 9:38 pm: Ich schreibe weiter nach meiner genial durchgeführten Operation »Zahnarzt«. Oh, da hab ich ihnen wohl einen Schreck eingejagt! Suki! Obwohl, nein, ich habe unrecht, der Psychologe sagt: vergessen, alles durchstreichen. Es gibt sie nicht. Es gibt mich. Es gibt den Zahnarzt. Es gibt mich. Es gibt den Zahnarzt. Es gibt meine Einbildungen – sie gibt es nicht. Es gibt sie NICHT … Pisdez! Ganz ruhig. Raus auf die Straße, in die Straßenbahn gestiegen. Drei Stationen. Umgestiegen. An der Haltestelle lag einer. Autos fuhren hin und her (na und wenn schon, ich kletterte aus der Bahn, was heißt klettern, ich robbte die Stufen herunter, ich kenne diese Haltestelle schon lange. Links sind Mülltonnen, rechts eine Litfaßsäule, von der Straße aus kann man das nicht einsehen, und außerdem hatte ich mir eine riesige Mülltüte über den Kopf gezogen und mich als Müllsack getarnt, ha!). In die Metro. Im letzten Moment in den letzten Wagen eingestiegen und auch im letzten Moment ausgestiegen. Keine bekannten Gesichter. Nach einer Stunde Herumfahrerei zurück nach Hause. Mein Spiegelbild auf der Wohnungstür – hinter mir steht also keiner. (Keiner? Oder wird die ganze Straße mit Kameras überwacht?) Knapp vor einem Lastwagen über die Straße gerannt. Da ist sie, die Zahnarztpraxis. (weiter unleserlich) Für heute reicht es mit dem Schreiben. Morgen ist wieder ein Tag, morgen gibt’s Essen. Das Einzige heute: so ein Brillenträger in der Straßenbahn hat mich komisch angeguckt, als ich rausgekrochen bin, als wolle er nicht, dass ich bemerke, dass er mich beobachtet. Mudak bljad. Die Visage merk ich mir! Ich werde ihn »den Fisch« nennen. Werde schon noch rausfinden, was das für ein Vogel ist. Ich wünsche mir selbst eine gute Nacht und gratuliere mir zu meiner persönlichen Genialität. Clever!

Monday, September 16th, 11:41 pm: Kurz: meine genial durchgeführte Aktion war in der Tat: genial. Für blutige Anfänger unter den Paranoikern: Wer sich selbst hilft – dem hilft Gott. Im Grunde ist alles gestern passiert, aber schreiben kann ich erst heute, nach dem Röntgen. Wie immer alles in Ordnung. Das heißt also, weitermachen. Zu demselben Arzt. Den »Fisch« habe ich nicht gesehen. Ich habe mit dem Arzt eine feste Verabredung, zu einer von ihm, dem Arzt, festgelegten Uhrzeit, an einem vereinbarten Ort, aber natürlich kannten sie meine Route, Suki, und meine Besonderheiten bei der Fortbewegung. Sogar den Mülleimer haben sie geleert, damit’s mir angenehmer ist. Aber das tut nichts zur Sache. Ich hab denen gezeigt, dass ich mich mit den Gepflogenheiten des Spionage-Gewerbes auskenne. Dass ich mich auf die hohe Kunst der Tarnung verstehe! Ich betrete also das Kabinett dieses professionellen Sadisten, mich erwarten diese Spielzeuge für das Verhör: kleine Zangen, Bohrer und der kalte Blick des Schurken. Ich werfe gleich meinen Köder. »Na was«, sage ich, »Sie werden mich foltern.« Und er: »Aber allerhöchstens mit einer klitzekleinen Spritze.« Mudak! Ich: »Spritze, soso, dann nennen Sie mir das Präparat, und beim nächsten Mal bringe ich es selbst mit.« Und lege nach: »Na was – Sie geben mir eine Wahrheitsdroge!« Er schmunzelt und sagt: »Wenn’s sein muss, werden Sie mir auch so alles erzählen.« Eine Schlange, na klar, aber aufrichtig. Jedenfalls habe ich ihm die Möglichkeit gegeben, in meiner Mundhöhle herumzuwühlen … aber dann urplötzlich pack ich ihn bei der Hand, schau ihm ins Auge und frage ganz vertraulich: »Was hat man Ihnen gezahlt?« Seine Augen verengen sich, typisches Zeichen von Unbehagen. Die Bohrmaschine in seiner Hand und in meinem Mund, ich frage trotzdem weiter: »Wie viel, mein Lieber, oder ausch Überscheugung, ha?«, und blinzele ihm so zu, bljad, ich zwinkere so idiotisch, aber wissend. Wir bringen die Sache zu Ende, ein bisschen Karies und Zahnstein. Wir verabschieden uns. Als er mir die Hand reicht, dieser Satan, reiche ich ihm auch meine und sage: »Und jetzt gehe ich in die Klinik und lasse mich röntgen, mal sehen, was Sie mir da reingepackt haben.« Sein Gesicht hättet ihr sehen sollen! Ha-ha-ha! Nun also, das Röntgenbild hat gezeigt, dass keine Fremdkörper in meinem Gebiss sind. KEINE! Versteht ihr, kein Sender, kein Gift, kein Mikrofilm! Ich freue mich meines Lebens, job doch IHRE Mutter! (Weiter unleserlich)

Seien sie vorsichtig mit dem Fluchen

--- Während ich mich fast im Fieberwahn in dem Text festlas, durchschritt die Frau jene Tür, hinter die zu gelangen nicht mein Traum allein war. Und da riefen sie auch mich auf. Als ich durch den Raum ging, in dem zur Rechten und zur Linken Leute lagen, entdeckte ich die Frau. Sie hielt einen jungen, pickligen Burschen an der Hand. Ich weiß nicht, warum er dort war. Das ist auch unwichtig. Entscheidend war, dass er sich in dem Moment, in dem ich reinkam, im Satz unterbrach. Ich hörte das Wort, das ich zuvor selbst ausgesprochen hatte: »Bljad!« Bei meinem Anblick geriet er in Verlegenheit. Ich gab das Notizbuch zurück, wünschte gute Besserung und ging weiter. Dorthin, wo man mir endlich Hilfe gewähren würde. Ich machte ein paar Schritte. Blieb stehen. Dachte, kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig, kurz nach und wandte mich zu meiner neuen Bekannten um und zu dem, den sie an der Hand hielt. »Junger Mann«, sagte ich und schluckte unter Schmerzen, »Sie haben ohne Frage Talent. Seien Sie vorsichtig mit dem Fluchen. Man könnte Sie verstehen, selbst da, wo Sie es gar nicht vermuten.«

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