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Stalin, der Diktator, aufgebahrt im März 1953

© Photographers' Gallery

Russland in frühen Farbfotos: Moskaus fremdes Riesenreich im Porträt

Annäherung an ein unbegreifliches, fremdes Land: Russische Farbfotografie aus über 100 Jahren – eine großartige Ausstellung in London.

Russland ist uns fremd geworden, unheimlich. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer, die zwei Welten konsequent trennte, wird die politische und kulturelle Differenz immer deutlicher. Die abschreckend klaren Verhältnisse des Kalten Kriegs hatten auch Beruhigendes. Die Entspannungspolitik bis hin zu Glasnost und Perestroijka und der deutschen Wiedervereinigung verbreitete Aufbruchstimmung. Sie ist nach den Ereignissen auf der Krim und in der Ostukraine großer Sorge um den Frieden in Europa gewichen – was auch mit der Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren zusammenhängt. An Schlafwandeln am Abgrund und berauschten Nationalismus.

Großbritannien, wo der Erste Weltkrieg stärker präsent geblieben ist als hierzulande, feiert 2014 ein russisches Kulturjahr. Zu den Hauptveranstaltungen gehört die Ausstellung „Primrose: Early Colour Photography in Russia“ in der Photographers’ Gallery in London, einer dynamischen Institution, der in Berlin höchstens C/O nahekommen könnte, demnächst am Bahnhof Zoo. Auf den zwei Etagen der stupenden Präsentation, vor und nach der Revolution, sticht zweierlei ins Auge: Russlands Oberschicht gab sich im 19. Jahrhundert europäisch. Und das Riesenland war sich selbst fremd.

Großauftrag für Fotopionier Sergej Prokudin-Gorski

Zar Nikolaus II., ein begeisterter Amateurfotograf, erteilte dem Fotopionier Sergej Prokudin-Gorski 1909 einen Großauftrag. Er sollte im russischen Reich Menschen und Regionen, Kulturen und Religionen, Architektur und technischen Fortschritt dokumentieren. Prokudin-Gorski bekam einen eigenen Zug mit Dunkelkammer, ein Automobil der Marke Ford und ein Dampfschiff zur Verfügung gestellt. Sechs Jahre war er unterwegs, vermaß das Imperium mit einer selbst entwickelten Technik. Die Aufnahmen wurden mit drei monochromen Farbplatten hintereinander belichtet und auf die gleiche Weise mit Farbfiltern auf Leinwand projiziert. Der Aufwand war groß, die Handhabung unpraktisch, aber die Ergebnisse leuchten bizarr, wie verseuchte Gewässer.

Prokudin-Gorskis Bilder sind, auch durch chemische Veränderungen über die Zeiten, von hyperrealer Farbigkeit. Außerirdische Landschaften. 1918 emigrierte er nach Paris. Im Martin-Gropius-Bau Berlin hängen in der Ausstellung „1914: Welt in Farbe. Farbfotografie vor dem Krieg“ jetzt auch einige seiner Aufnahmen: Flöße auf der Wolga, eine Metallträgerbrücke der Transsibirischen Eisenbahn, ein Wasserwerk in Kasachstan. Porträts aus Turkestan erinnern an die Malerei der Orientalisten, Franzosen und Engländer zumeist, die Jahrzehnte zuvor die arabischen Länder durchstreift hatten. Der Kaukasus und die zentralasiatischen Länder sind von der Sowjetunion abgefallen. Auf den alten Fotografien wirken die Menschen dort wie kostümiertes Kolonialvolk. Und das waren sie auch.

Literarische Fotografie: Jedes Bild ein geöffnetes Buch

Piotr Vedenisov kommt in den späten 1880er Jahren nach Jalta auf die Krim. Er war wohlhabend, ein Künstler, seine Bilder strahlen mediterranes Klima aus, helle Häuser, blauer Himmel, fröhlich gekleidete Menschen. Ein reiches Russland der Elite, das noch in der Schwebe hängt zwischen Tradition und Ausbeutung der Bauern, hochentwickelter Gefühlsästhetik, Dialogkunst und dem aufziehenden Jahrhundertsturm: Tschechow-Terrain. Literarische Fotografie. Jedes Bild ein halb geöffnetes Buch, hingepinselt.

Leo Tolstoi stirbt 1910. Die Ausstellung, kuratiert von Olga Siblova vom Moscow House of Photography, überrascht mit dem einzigen Farbfoto des alten Dichterfürsten, mit zottig langem Bart, finsterem Blick, Bauernkittel, der Asket sitzt auf einem Korbstuhl. Er blickt finster, unversöhnlich. Oder jenes Foto von Dmitri Baltermans, Moskau 1953. Stalin aufgebahrt in einem Dschungel von Blumen und Pflanzen, die Leiche des Revolutionärs und Massenmörders verströmt einen schweren Duft. Ganz große Staatsoper! Bald darauf kommt Marschall Tito zu Besuch, eine Aufnahme mit Chruschtschow und Entourage, dicke Männer in Uniform und Anzügen. Sommertage mit Tauwetter. Geschichtsblitze.

Die Sowjets instrumentalisierten die Fotografie

Kleines Mädchen in altrussischer Tracht.
Kleines Mädchen in altrussischer Tracht.

© Photographer's Gallery

70 Prozent der Russen waren Analphabeten 1917. Die Sowjets benutzten die Fotografie als Instrument der Bildung, nicht nur der Propaganda. Wie die Kirche im Mittelalter mit ihrem Bildprogramm. Revolutionäre Kunst bedeutete Collage von neuen Mythen und Alltag – schwarzweiß, mit Ausnahme der applizierten Farbe Rot. Bereits Mitte der 1920er Jahre belebte Alexander Rodschenko, der große Ästhet der Avantgarde, die alte Technik der Handkolorierung. Es fehlte in der Sowjetunion auch schlicht an Farbfilmmaterial, und das blieb so bis in die frühen Siebziger. Farbnegativfilme gab es nur für Staatsfotografen. Dagegen waren Farbdias ein Medium für breitere Schichten, und daraus entwickelte sich eine Subkultur mit Nacktaufnahmen, wie man sie von Boris Michailow kennt. Ihm widmete die Berlinische Galerie 2012 eine umfassende Retrospektive, „Time out of Joint“.

Michailow hat auch Porträts von Hand koloriert, in schrillen Farben, die das Genre und die Personen subversiv-kitschig überzeichnen. Unwillkürlich geht man zu den vorrevolutionären Militärporträts zurück, auf denen junge Männer sehr alt und sehr ernst aussehen und mit Säbel im Studio vor Blumen und Vorhängen strammstehen. Die Aufnahmen waren populär, ebenso wie die märchenhaft wirkenden Panoramen von orthodoxen Kirchen und Klosteranlagen, die ihre eigenen Fotostudios unterhielten.

Gibt es die russische Seele?

Zwischen Michailows parodistischen Arrangements und den Posen der zaristischen Soldaten und der jungen Mädchen, die wie herausgeputzte Puppen wirken, liegen eine Revolution und zwei Weltkriege. Und eine sowjetische Avantgarde, die in ihrer Klarheit und Modernität noch immer fasziniert. Früher haben Bilder gesprochen. Heute sprechen die Kameras, in Mobiltelefonen versteckt.

Eine Frage bleibt, gleich welche Technik zum Einsatz kommt: Gibt es das wirklich, die Seele eines Landes, die russische Seele? Und woher kommt die Verbindung von Russland und Seele, Osten und Schwermut, Ikonen und Birken? Wie viel Wahres liegt in den Klischees! Primrose, die Primel: Der Titel der Londoner Schau lässt sich nicht nur ironisch verstehen. Die Primel kommt aus Asien, sie blüht früh und verträgt eine Menge, auch Kälte.

London, Soho, Ramillies Street 16–18, bis 19. Oktober. Leider kein Katalog. Infos: www.thephotographersgallery.org.uk.

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