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Präsident Wladimir Putin.

© dpa

Russland und die Ukraine-Krise: Was die Propaganda von Putin mit Orwells "1984" gemein hat

Von "Eurasien" bis "Doppeldenk": Um Wladimir Putin und die gegenwärtige russische Propaganda über die Ukraine zu verstehen, muss man George Orwells Klassiker "1984" lesen. Ein Vergleich.

Wer die gegenwärtige russische Haltung zur Ukraine verstehen will, sollte sich George Orwells Klassiker „1984“ anschauen. Das Buch führt uns, oft erschreckend präzise, zu den aktuellen Ereignissen. Der einfachste Weg, um zu beginnen, ist angesichts der nun offensichtlichen russischen Invasion der Ukraine „Krieg ist Frieden“, einer der Slogans des fiktiven Reichs in Orwells Geschichte. Schließlich wurde bislang jeder Versuch von Verhandlungen und Waffenstillständen zuverlässig von einer russischen Eskalation begleitet, bis klar war, dass dies kein Zufall sein konnte. Wenn der russische Präsident Wladimir Putin sich mit anderen Staatsmännern trifft, müssen wir davon ausgehen, dass dies bloß der Beschwichtigung der neuesten internationalen Empörung dient, wie bei den letzten Gesprächen in Minsk, die vom Eingreifen neuer russischer Truppen, Panzer und Kanonen in die Kämpfe begleitet wurden.

Aber wir müssen ein bisschen tiefer in Orwells Logik einsteigen, um diesen sehr seltsamen Krieg zu verstehen, mit dem Putin die russische Politik radikalisiert, die europäische Friedensordnung zerstört und die Annahmen der Europäer über ihre Zukunft über den Haufen geworfen hat – und sogar die Gefahr eines Nuklearkriegs heraufbeschwört. Jeder Versuch, einen Grund für diesen bis zum Nihilismus sinnlosen Krieg zu finden, ist entweder offensichtlich gefälscht oder in sich widersprüchlich oder beides. Um dieses schreckliche Ereignis zu begreifen, bei dem Menschen ohne erkennbaren Grund töten und sterben, müssen wir an einige Schlüsselbegriffe von Orwell erinnern: „Eurasien“, „Doppeldenk“ und „Lernen Big Brother zu lieben“.

In Orwells Dystopie ist Eurasien ein kriegerischer Staat

In Orwells „1984“ heißt eine der Weltmächte Eurasien. Interessanterweise lautet auch der Name von Russlands wichtigster außenpolitischen Doktrin Eurasien. In Orwells Dystopie ist Eurasien ein repressiver, kriegerischer Staat, der „den gesamten nördlichen Teil der europäischen und asiatischen Landmasse, von Portugal bis zur Beringstraße“ umfasst. In der russischen Außenpolitik ist Eurasien ein Plan für die Integration von allen Länder von – Sie haben es erraten – Portugal bis zur Beringstraße. Orwells Eurasien praktiziert einen „Neo-Bolschewismus“. Russlands führender Eurasien-Theoretiker nannte sich einmal selbst einen „nationalen Bolschewiken“. Dieser Mann, der einflussreiche Publizist Alexander Dugin, hat sich seit langem dafür eingesetzt, dass der ukrainische Staat zerstört werden solle, und plädierte vor kurzem dafür, dass Russland die Ukrainer „ausradieren“ möge.

Orwell kann uns helfen zu erkennen, was mit uns geschieht, wenn wir gutgläubig versuchen, mit offiziellen russischen Medien die Welt zu verstehen. Die russische Propaganda über die Ukraine ist das heutige Doppeldenk: Es erfordert, dass die Menschen, wie Orwell es ausdrückt, „gleichzeitig zwei Meinungen vertreten können, die sich widersprechen, und trotzdem an beide glauben“. Die russische Propaganda hämmert täglich zwei Seiten zu jeder Geschichte heraus, wovon beide falsch sind und jede der anderen widerspricht. Nehmen wir also ein paar dieser Phrasen, von denen jede nach acht Monaten der Wiederholung vertraut klingen sollte.

Russen und die Ukraine - zwei Seiten einer Geschichte

Einerseits muss Russland in die Ukraine einmarschieren, weil der ukrainische Staat repressiv ist. In Wirklichkeit ist die Ukraine eine Demokratie mit freier Meinungsäußerung und in jeder Hinsicht ein freieres Land als Russland. Andererseits muss Russland eingreifen, weil es keinen ukrainischen Staat gibt. Tatsächlich funktioniert er genauso gut wie der russische Staat, außer in den problematischen Bereichen von Krieg, Geheimdienst und Propaganda. Einerseits muss Russland in der Ukraine eingreifen, weil die Russen in der Ukraine dazu gezwungen werden, die ukrainische Sprache zu sprechen. Das stimmt nicht. Russen in der Ukraine haben weit mehr die Freiheit, so zu sprechen, wie sie wollen als Russen in Russland. Die meisten Menschen, die in der Ukraine Russisch sprechen, sind nicht wirklich Russen, genauso wie nicht alle Menschen, die Englisch sprechen, Engländer sind. Andererseits gibt es keine ukrainische Sprache. Es gibt sie. Ukrainisch hat eine stolze literarische Tradition und wird von Millionen von Menschen gesprochen.

Einerseits sind alle Ukrainer Nationalisten. In Wirklichkeit hat die extreme Rechte bei den letzten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine gerade einmal zwei Prozent der Wählerstimmen bekommen, weit weniger als in jedem anderen europäischen Land. Andererseits gibt es keine ukrainische Nation. Tatsächlich zeigen Meinungsumfragen das Gegenteil. Die Ukrainer sind Patrioten, Millionen von ihnen waren bereit, sich während der Revolution für ihre Nation einzusetzen und Tausende von Freiwilligen haben sich entschieden, ihr Leben an der Front zu riskieren.

Na, ist Ihnen schon schwindelig? Ein letztes Mal noch: Einerseits führt Russland Krieg, um die Welt vom Faschismus zu retten. Eigentlich ist es Russland, wo die extreme Rechte großen Einfluss ausübt und der Staatschef in Hitler-Manier die Invasion eines fremden Landes verkündet, um die ethnischen Brüder zu schützen. Politische Verbündete Russlands sind Europas rechtsextreme Parteien, einschließlich der Faschisten und Neonazis. Andererseits ist Faschismus gut. In Russland wurde Hitler inzwischen als Staatsmann rehabilitiert, die Juden werden für den Holocaust verantwortlich gemacht und Homosexuelle gelten als Teil einer internationalen Verschwörung.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen

Die russische Propaganda bietet beide Seiten jeder Geschichte. Wir hingegen gehen davon aus, dass die Wahrheit irgendwo dazwischenliegt. Aber bei Behauptungen, die vorsätzlich falsch und widersprüchlich sind, gibt es keine Wahrheit. Es gibt nur Wahnsinn oder, wie Orwell es nennt, die Weisheit „Big Brother lieben zu lernen“, den unerreichbaren, totalitären Führer des Romans. In „1984“ lernen die Menschen, Big Brother zu lieben, indem sie die Sache, die ihnen am meisten gefällt, opfern. In der Ukraine wäre dies die eigene Staatlichkeit, wie Putin es gerade gefordert hat, indem er die Teilung des Landes und die Bildung eines „Novorossiya“ (Neurussland) in seinem Südosten verlangte.

Allzu oft versuchen wir zu erraten, was in Putins Kopf vor sich geht. Wir deuten seine Worte, seine Gestik und Mimik, anstatt uns in die Welt der Tatsachen zu begeben. Ist es wirklich wichtig zu wissen, wes Geistes Kind Putin ist? Weiß das überhaupt irgendjemand, Putin selbst eingeschlossen? Man kennt ihn als großen Selbstdarsteller, der, wenn es seinem Image dient, sogar in Kinder-Cartoons eingreift und über Fernsehprogramme präsidiert, die die Frage seiner möglichen Heiligkeit erörtern.

Putin hat nur ein Ziel: die Verteidigung und den Ausbau seiner Macht

Am Ende von „1984“ macht ein Mitglied des Big-Brother-Regimes, der gerade ein Opfer foltert, eine Bemerkung: „Macht ist nicht ein Mittel, es ist ein Ziel.“ Was immer in Putins Kopf vorgeht, was immer er sagt und tut, geht es ihm immer doch nur um eins: die Verteidigung und den Ausbau seiner eigenen Macht. Unterdrückung in Russland, der Krieg in der Ukraine und die Destabilisierung des Westens sind ein grotesk hoher Preis, die für die Selbsterhöhung dieses Staatsmannes zu zahlen sind. Besser als weiter in die Augen des Doppeldenkers zu starren wäre es, wenn wir darüber nachdenken würden, was uns wichtig ist und was wir tun können, um es zu schützen. Wenn die Ukraine zu einem Teil von „Neurussland“ wird, verwandelt sich Europa in Eurasien, und der Westen kollabiert. Das würde dann nicht wegen Russlands militärischer Stärke, sondern wegen unserer geistigen Schwäche geschehen.

Timothy Snyder lehrt Geschichte an der Yale University und wurde mit seinem Buch „Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin“ bekannt. Dieser Text erschien zuerst auf politico.com. Aus dem Englischen von Christian Schröder.

Timothy Snyder

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