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Sachbuch: Zu viel Triebverzicht

Wir Genussarbeiter: Svenja Flaßpöhler schreibt über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft.

Wer in Lohn und Brot steht und dabei nicht das Gefühl hat, sich zur Arbeit quälen zu müssen, sondern gern arbeitet und vielleicht sogar glaubt, dabei sich selbst zu verwirklichen, was immer das auch wieder genau meint, kennt das Problem, eines, das als solches zunächst gar nicht erkannt wird: Es hört nie auf mit der Arbeit. Nach Büroschluss geht der elektronische Schriftverkehr munter weiter, und sehr stark muss sein, wer Arbeit und Freizeit sorgsam trennen möchte. Über Handy und Internet ist man zuhause genauso wie im Urlaub wiederum problemlos zu erreichen.

„Genussarbeit“ nennt die Philosophin Svenja Flaßpöhler diese Form von nur allzu gern gemachter Arbeit in ihrem Buch über „Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft“. Und sie weiß, warum diese Form der Arbeit nie aufhört: „Als Genussarbeiter und Genussarbeiterinnen lieben wir unsere Arbeit, wir brauchen die Anerkennung, die wir durch sie erfahren oder doch zumindest zu erfahren hoffen, denn das Gefühl, tatsächlich ausreichend Anerkennung zu erfahren, stellt sich fast nie und wenn, dann nur flüchtig, ein.“ Kaum hat man den letzten Punkt unter einen Text gesetzt, wartet der nächste, kaum ist die Werbeidee für den neuesten fettarmen Joghurt erfolgreich umgesetzt worden, wartet das neueste alkoholfreie Bier darauf, zündend beworben zu werden.

Arbeitssucht ist gesellschaftlich anerkannt

Die Folge dieser Liebe zur Arbeit und der unstillbaren Sehnsucht nach Anerkennung sind zum einen die Arbeitssucht, die als solche im Gegensatz zu vielen anderen Süchten auch noch gesellschaftlich anerkannt ist. Zum anderen das Versagen anderer Genüsse: „Die Lust an der Überschreitung, die kennzeichnend fürs Genießen ist, lebt der Genussarbeiter vor allem in seiner Arbeit aus“, schreibt Flaßpöhler. Demzufolge untersucht sie in ihrem Buch diese Ambivalenz zwischen Genussarbeit und Genussverzicht, der mehr ein Triebverzicht zugunsten der Arbeit ist. Will heißen: Wohlfühlen, Schönheit, Sex, Gesundheit, all das ordnet sich dem Diktat der Arbeit unter, „dem freien Zwang unser heutigen Leistungsgesellschaft“.

Bemerkenswert an Flaßpöhlers Untersuchung ist, dass sie mit den Klassikern der Kulturkritik von Freuds „Unbehagen in der Kultur“ bis zu Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ argumentiert und zugleich zeitgenössische Bücher wie Alex Rühles „Mein halbes Jahr offline“ oder Miriam Meckels „Brief an mein Leben. Erfahrungen mit einem Burnout“ gelesen hat. Ihre Gewährsleute reichen von Homer über Hegel und Kant bis zu Max Weber, und mit diesen versucht sie, den Öko- und Biowahn und die Pornografisierung unserer Gesellschaft zu erklären. Auffallend aber ist auch, dass man bei diesem Buch den Eindruck bekommt, Flaßpöhler muss beim Schreiben und beim Hervorzeigen und In-den-Zusammenhang-Schmeißen ihrer Lesefrüchte einen solchen Genuss gehabt haben, dass ihr der Kern ihrer Abhandlung etwas aus dem Blickfeld geriet.

Die Freiheit zur Muße ist ein Luxusartikel

Nicht jedes Kapitel erschließt sich auf Anhieb, etwa das über den Genussdenker Martin Heidegger oder das über die Schnäppchenjagden, die „Erlösung zum Sonderpreis“. Flaßpöhler schwingt passagenweise das große kulturkritische Rad, ohne zu wirklich weltbewegenden Erkenntnissen zu kommen: „Der Körper wird dem Leistungsgedanken angepasst, zur Not auch pharmazeutisch“, analysiert sie. Oder: „Bei der Schnäppchenjagd geht es … um den Tauschwert. Um das gierige Anhäufen von Gütern, die ihren Wert allein dadurch erlangen, dass ein anderer sie ebenso gern besessen hätte“.

Nun denn. Zumindest deucht es einen am Ende der Lektüre, dass „wir“ als „Genussarbeiter“ und überhaupt die Gesellschaft auf einem falschen Dampfer unterwegs sind, das aber volle Kraft voraus. Das haben vor Flaßpöhler schon andere erkannt, Melanie Mühl etwa („Die Patchworkwork-Lüge“), Frank Böckelmann („Risiko, also bin ich“), Frank Schirrmacher („Payback“) oder Sven Hillenkamp („Das Ende der Liebe“). Und wie diese weiß auch Svenja Flaßpöhler nicht, wie man den Dampfer wieder auf Kurs bringen kann, wie wir aus dieser speziellen Genussfalle wieder herauskommen. Denn das Loblied, das sie am Ende auf das „Loslassen“, das Nichtstun, die Muße, die Gelassenheit singt, das klingt zwar gut. Dieses Lied kennt aber auch jeder Genussarbeiter und weiß trotzdem: Es singt sich leichter als danach zu handeln. Die Freiheit zur Muße, zum Loslassen, ist ein Luxusartikel, den sich kaum einer leisten kann.

Svenja Flaßpöhler: Wir Genussarbeiter. Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 208 Seiten, 17,99 Euro.

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