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Krieg der Körper. Sasha Waltz holt den „Sacre“ in unsere Zeit.

© Bernd Uhlig

„Sacre du printemps“: Frühlings Erschrecken

Triumph in Paris: Sasha Waltz kreiert zum 100. Jubiläum von „Sacre du printemps“ eine neue Version des Strawinsky-Balletts. In den Bann schlagen vor allem die energetischen Spannungen und Entladungen der Musik sowie ihre vertrackten Rhythmen.

Von Sandra Luzina

Alles, was damals einen Namen hatte in der Pariser Kunstszene, ist am Abend des 29. Mai 1913 zum Théâtre des Champs-Elysées gepilgert, zur Uraufführung von Strawinskys „Sacre du printemps“ durch die Ballets Russes und den Choreografen Vaslav Nijinsky. Eine große Erregung lag in der Luft. Als sich nach 75 Takten der Vorhang hob, brach ein Sturm der Entrüstung los. „Höllenlärm“ habe im Saal geherrscht, notierte Harry Graf Kessler. Der „Sacre“ war einer der größten Skandale in der Musik- und Tanzgeschichte. Claude Debussy sprach gar vom „Massacre du printemps“. Das hat den Ruhm des Werks nur befördert.

Das 100-jährige Jubiläum dieses Schlüsselwerks der Moderne wird überall gefeiert, vor allem aber in Paris. Sasha Waltz führt den Reigen der Gratulanten an: Auf Einladung von Michel Franck, dem Leiter des Théâtre des Champs-Elysées, und von Valery Gergiev, dem Generalmusikdirektor des St. Petersburger Mariinsky Theaters, hat sie eine zeitgenössische Vision des „Sacre“ kreiert. Es ist ihre erste Zusammenarbeit mit dem berühmten Mariinsky-Ballett. Den St. Petersburgern gehörte zwar das Recht der ersten Nacht – dort wurde die Waltz-Kreation schon Mitte Mai aufgeführt.

Doch der Festakt in Paris am historischen Ort unterstrich erst die historische Ausnahmestellung des Werks. Arte übertrug die Aufführung live im Rahmen eines Themenabends, vor dem Pariser Rathaus gab es ein Public Viewing.

Nijinskys umstrittene Choreografie, die als „crime against grace“ in die Tanzgeschichte einging, ist zwar verschollen. Doch die Rekonstruktion von Millicent Hodson und Kenneth Archer aus dem Jahr 1981, die den Abend eröffnet, lässt erahnen, was damals das mondäne Publikum schockte. Nicht nur das Sujet – ein Fruchtbarkeitsritual mit Jungfrauenopfer –, nicht nur die schwindelerregenden Rhythmen Strawinskys provozierten das Publikum. Nijinksys Choreografie war ein Anschlag auf das Ideal des klassischen Balletts. „Sie stampfen, sie stampfen, sie stampfen immer noch“, beschrieb ein fassungsloser Kritiker den Furor auf der Bühne. Die eingedrehten Füße, der seitlich abgewinkelte Kopf, die wuchtigen, kantigen Bewegungen, das Zittern und Erschauern des Opfers, der wilde Taumel der Menge – der tänzerische Primitivismus, die konstruierte Archaik wirkt heute befremdlich und zugleich faszinierend. Immer noch, nach einem Jahrhundert.

In Bann schlägt vor allem die Musik, ihre energetischen Spannungen und Entladungen, ihre vertrackten Rhythmen. In der packenden Interpretation des Mariinsky-Orchesters unter Leitung von Valery Gergiev klingt sie manchmal geradezu unheimlich. Und lässt einen den ganzen Abend nicht mehr los.

Sasha Waltz markiert die historische Distanz zum Werk, statt grüner Landschaft sieht man nur einen schwarzen Geröllhaufen auf der Bühne. Keine Naturanbetung; es sind düstere Ekstasen, zu denen sie aufstachelt. Doch mit ihrer heutigen Lesart des „Sacre“ antwortet sie nicht nur auf Nijinsky, sie verweist auch auf die legendären Interpretationen von Maurice Béjart (1959) und Pina Bausch (1975).

Ein Mann und eine Frau verschmelzen anfangs in einem leidenschaftlichen Akt, während auf der linken Seite eine verführerische Tänzerin in weißem Gewand die Gruppe anführt. Die verdrängte Natur manifestiert sich bei Sasha Waltz in einer entfesselten Sexualität. Die Körper ballen sich zusammen, sie verhaken sich zu wirbelnden Trios, aus denen immer wieder einer herausgeschleudert wird. Männer und Frauen stürzen sich in einem Vereiningungsfuror aufeinander und reißen heftig aneinander. Die Bühnenorgie von Waltz zielt auf eine Gesellschaft, die süchtig ist nach dem Exzess. Wie zur Mahnung lässt Sasha Waltz zwei Kinder auftreten, sie geraten in den Strudel der Leiber, müssen geschützt werden vor den Entgrenzungen. Auch die Frauen drängen sich aneinander, um sich dem Schlachtfeld der Sexualität zu entziehen. Oder sie traktieren ihren Unterleib mit heftigen Schlägen, ähnlich, wie man es schon bei Pina Bausch gesehen hat.

Lange Zeit ist unklar, wer das Opfer des Frühlings sein wird. Immer wieder wird eine Tänzerin emporgehoben oder über die Bühne geschleift. Doch alle Blicken richten sich dann auf Ekaterina Kondaurova. Der erschütternde Tanz des Opfer zeigt das Entsetzen, das wiederholte Aufbäumen bis zum Zusammenbruch. Doch die Ausgegrenzte findet noch zu verzweifelten Gesten des Widerstands, während die Gruppe erstarrt. Die expressiven Mariinsky-Tänzer haben sich den Stil der Berliner Choreografin wunderbar angeeignet.

Auch wenn sich ein paar zarte Buhs in die Bravorufe mischten, wurde der Abend doch zum Triumph für Sasha Waltz. Die Berliner müssen noch etwas Geduld haben, bis sie sich den Ekstasen des „Sacre“ hingeben können. Sasha Waltz wird den „Sacre“ demnächst auch mit ihrer eigenen Compagnie einstudieren. Die Premiere findet am 26. Oktober in der Staatsoper statt, mit Daniel Barenboim am Pult.

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