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Abbildung des Marquis de Sade, wie er aus der Bastille in die Irrenanstalt von Charenton verlegt wurde.

© akg / Science Photo Library

Sadismus: 200. Todestag des Marquis de Sade: Wo Ekel und Kitzel nah beieinander liegen

Jeder weiß, was Sadismus ist. Aber keiner liest de Sade. Sind seine Schriften perverser Schweinkram oder radikale Vollendung der Aufklärung? Eine Spurensuche zum 200. Todestag des Marquis de Sade.

Dahlem, Ende der Neunziger. „Die Literatur und das Obszöne“ heißt ein Seminar an der FU, das neben Georges Bataille, Henry Miller und Arno Schmidt dem Marquis de Sade eine Sitzung widmet. Mit einem Referat über „Die 120 Tage von Sodom“ soll es losgehen. Doch alles kommt anders. Betreten entschuldigt sich die Studentengruppe beim Dozenten. Man könne dieses Referat nicht halten. „Wieso denn das?“ Der teuflisch perverse, böse Text sei unlesbar. Angewidert und entsetzt habe man aufgegeben.

Spießige Prüderie oder berechtigter Skrupel? Zur Erklärung: Das 1904 posthum erschienene Romanfragment skizziert extrem grausame Missbrauchshandlungen. Stiche, Schnitte, das Herausreißen von Augen, Gliederamputationen samt deren Verzehr sind nur einige Brutalitäten, die hier vorwiegend in Kombination aufgeboten werden.

Jeder weiß, was Sadismus ist. Keiner liest de Sade. So in etwa ist es auch zum 200. Todestag am 2. Dezember um den „göttlichen Marquis“ bestellt, wie ihn sein Wiederentdecker Guillaume Apollinaire taufte. Nur ist das auch schon wieder über 100 Jahre her. Damals haben alle de Sade gelesen. Psychiater wie Richard von Krafft-Ebing oder Sigmund Freud studierten ihn. Die Surrealisten ließen sich inspirieren, allen voran André Breton und Luis Buñuel, der die 120 Tage in „L’Âge d’Or“ ironisch verhandelt und der, gemeinsam mit Salvador Dalí , ihrem Schöpfer in „Un chien andalou“ ein furchtbares Denkmal setzt. Die Szene, in der ein Mann einer Frau mit dem Rasiermesser durchs Auge schneidet, brennt sich ein – ein unvergessliches Bild.

Marquis de Sade revolutionierte die Sprache der Erotik

Horkheimer und Adorno widmeten de Sade ein Kapitel in der Dialektik der Aufklärung. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieben die Existentialisten Essays über den Autor des legendären Romans „Justine und Juliette“. Der postmoderne Denker Roland Barthes adelte ihn zum Logotheten, zum Begründer einer neuartigen, revolutionären Sprache der Erotik. Diese Liste verdeutlicht: Der Marquis ist eine der schockierendsten, aber auch einflussreichsten Figuren der Kultur- und Geistesgeschichte. Nachverfolgen lässt sich das jetzt in dem Band „Sade. Stationen einer Rezeption“.

Zweifellos waren seine Schriften skandalös – und sind es vielleicht noch. Aber war der Verfasser der Philosophie im Boudoir auch selbst Sadist? Sein ausschweifendes Leben jedenfalls bot Stoff für Filme und Romane. Unvergessen Geoffrey Rush in „Quills“ (2000), der mit der Rolle eines nicht unsympathischen, tragisch endenden Marquis für den Oscar nominiert war. Im Jubiläumsjahr darf eine neue Biografie nicht fehlen. Die hat der Historiker Volker Reinhardt unter dem Titel „De Sade oder Die Vermessung des Bösen“ vorgelegt, kenntnisreich und sachlich.

Der Marquis frönt eifrig der Promiskuität

1740 in Paris geboren, verbringt Donatien Alphonse François de Sade mehr als ein Drittel seines Lebens hinter Gefängnismauern. Als Zwölfjähriger soll er so hübsch gewesen sein, dass Frauen auf der Straße mit offenem Mund stehen blieben. Sein Vater lässt sich die Erziehung etwas kosten und schickt seinen Filius auf ein exklusives Jesuitenkolleg. Als Offiziersanwärter erregt er durch Streiche, im Siebenjährigen Krieg durch Tapferkeit Aufmerksamkeit. Heiraten muss er eine Frau, deren vermögende Familie auf das Prestige seines Adelsnamen schielt. Spätestens hier beginnt ein Roman. Der junge Querulant nämlich liebt die Schwester der Braut. Seine Schwiegermutter, die Präsidentin de Montreuil, hätte als intrigante Strippenzieherin einem Theaterstück Molières entstammen können – de Sade (ent-)würdigte seine Erzfeindin später literarisch.

Mitte des 18. Jahrhunderts gehörten Kurtisanenbesuche für einen adeligen Libertin zum guten Ton und der Marquis frönt eifrig der Promiskuität. Das nötige Kleingeld besitzt er qua Mitgift und kann sogar auf das Verständnis der Präsidentin für seine außerehelichen Beischlafexkursionen bauen. Wäre da nicht die seine Zügellosigkeit. Anfangs zwingt er gekaufte Frauen zu Peitschengebrauch und blasphemischen Akten. Eine muss er bestechen, damit sie eine Klage wegen Entführung und schwerer Misshandlung zurückzieht.

Wegen einer Orgie mit Gruppensex und Analverkehr wird de Sade zum Tode verurteilt

Als er zwei Prostituierten Dragées verabreicht, die pulverisierte „Spanische Fliege“ enthalten, ein vermeintliches Aphrodisiakum, ist das Maß voll. Der Lüstling nimmt die bei hoher Dosierung tödliche Wirkung in Kauf, um eine Orgie mit Gruppensex und Analverkehr zu inszenieren wie ein Theaterstück, Erfahrungen mit einer Laienspielgruppe hat er. Eine besondere Rolle in der Performance spielen die heiß begehrten „Darmwinde“ der Damen. Das schweinische Szenario wird als „Bonbon-Affäre“ publik, de Sade zum Tode verurteilt. Offiziell wegen „Sodomie“ und „Giftmord“, auch wenn niemand umkam. In Begleitung seiner Schwägerin, inzwischen klösterliches Stiftsfräulein, flieht er.

War de Sade wirklich Sadist?

Titelseite und Illustration aus "Die Philosophie im Boudoir" des französischen Schriftstellers Marquis de Sade.
Titelseite und Illustration aus "Die Philosophie im Boudoir" des französischen Schriftstellers Marquis de Sade.

© dpa

Die Präsidentin tobt. Eine Hinrichtung wäre ein zu großer Skandal. Trotzdem muss sie den Marquis loswerden. Und es gelingt. Ihr Schwiegersohn landet 1777 in der Festung Vincennes, wo schon Diderot inhaftiert war. Dessen atheistisch-materialistische Schriften konnte de Sade nicht kennen, gefallen hätten sie ihm. Anders als die Bücher Rousseaus, den er verabscheut. An der Idee, der Mensch sei von Natur aus gut, arbeitet er sich verbissen ab. Sie liefert die Negativfolie zu seinem anthropologischen Kosmos des Bösen.

Aus den Gitterfenstern der Bastille, wohin der Gotteslästerer verlegt wird, feuert er die Französische Revolution an. Dafür sperrt man ihn in die Irrenanstalt von Charenton. Nun gilt er als Geisteskranker. 1790 kommt er frei, schließt sich den Jakobinern an und nennt sich fortan Louis Sade, „Homme des Lettres“. Anonym veröffentlicht er „Justine oder vom Missgeschick der Tugend“, einen Erfolgsroman, den er weiter ausbaut – nur um als perverses Monster wieder in der Anstalt zu landen. Mithilfe der Insassen bringt er Theaterstücke auf die Bühne, ganz Paris strömt in die Vorstellungen. Ein „Triumph des Lasters“, bevor er am 2. Dezember 1814 stirbt.

Gegen de Sade wirkt "Fifty Shades of Grey" lachhaft

Sicher, landläufig kann de Sade als Sadist gelten. Seine ausgelebten Obsessionen sind nicht ohne, doch harmlos verglichen mit seinen harten SM-Fiktionen. Die Abenteuer der tugendhaften Justine und ihrer verdorbenen Schwester Juliette sind teuflisch – der Bestseller „Fifty Shades of Grey“ wirkt lachhaft dagegen –, über jeden Realismusverdacht aber bleiben sie erhaben. Nicht genug anpreisen kann man die ungekürzte, zehnbändige Ausgabe bei Matthes & Seitz, die dem glänzend übersetzten Doppelroman „Justine und Juliette“ eine Reihe begleitender Essays zur Seite stellt.

Vielleicht hätte die an den „120 Tagen“ gescheiterte FU-Referatsgruppe hier ansetzen sollen. Denn de Sade ist lesbar (wenn auch Redundanzen schon mal ermüden) und ein Sade-Liebhaber nicht gleich Sadist. Ekel und Kitzel liegen nah beieinander. Vor allem aber war der Marquis ein philosophisch versierter, ironisch aufklärerischer Freigeist. Und er hatte Humor. Zugegeben, schwarzen Humor.

Sade. Stationen einer Rezeption. Hrsg. von Ursula Pia Jauch, Suhrkamp, Berlin 2014, 469 S., 20 €.

Volker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie, C. H. Beck, München 2014, 464 S., 26,95 €.

Sade: Justine und Juliette, Matthes & Seitz, München 1990–2002, 10 Bd., je 39 €

Tobias Schwartz

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