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Kultur: Sag niemals Nietzsche

Nachrichten aus der geklonten Zukunft: Michel Houellebecqs Roman „Die Möglichkeit einer Insel“

Von Gregor Dotzauer

Jede Zeit hat die Propheten, die sie verdient. Wir könnten noch einmal Nietzsche lesen, um uns auf die Ankunft des letzten Menschen einzustimmen – aber wir haben ja Michel Houellebecq. Wir könnten uns noch einmal durch Spenglers „Untergang des Abendlandes“ ackern – aber auch da haben wir den Franzosen, der uns mit verhärmtem Pokerface erklärt, wie wir in Technokratie und Ersatzreligionen flüchten. Wir könnten uns noch einmal mit den Sexbibeln von Herrn Osho vulgo Bhagwan Shree Rajneesh trösten – aber selbst da haben wir unseren Libertinage-Apokalyptiker vom Dienst, der uns in der schwärzesten Schwärze seiner Geschlechterverzweiflung vom befreienden 24-Stunden-Orgasmus träumen lässt und, womöglich, sogar von der Liebe.

Michel Houellebecq betätigt sich einerseits als großer Synkretist und Vereinfacher in der Diagnose des menschheitlichen Unglücks, andererseits verknüpft er politische und biologische Perspektive wie kein Autor zuvor: Sexuelle Emanzipation plus universaler Kapitalismus plus körperlicher Verfall ab spätestens vierzig ergibt Komplettkatastrophe. Das ist kein geringes Verdienst und eine Erklärung für seinen Erfolg, der ihn zumindest ökonomisch weit gebracht hat: Mit seinem vierten Roman „La possibilité d’une île“ (Die Möglichkeit einer Insel) ist er für eine Million Euro Vorschuss von Flammarion zu Fayard gewechselt, und das seit Wochen anhaltende Mediengeflatter über ein Buch, das nun parallel in Deutschland und Frankreich erscheint, spricht dafür, dass es jeden Cent wieder einspielt.

Ein Teil seines Charmes besteht darin, dass bei Houellebecq auch der Letzte versteht, dass die Welt so, wie sie ist, vor die Hunde geht. Der andere besteht darin, dass er daraus keine große Sache macht. Zerknautscht und nuschelig, wie er öffentlich auftritt, betrachtet er sich ganz und gar nicht als Präzeptor. „Zarathustra der Mittelschicht“ nennt er sich als Bauchredner seines Komikerhelden und Alter Egos Daniel1 in „Die Möglichkeit einer Insel“. Das inwendige Grinsen, das ihn bei solchen Etiketten packen muss, ist vielleicht die größte Bedrohung des vernichtenden Jüngsten Gerichts, das er unverbesserlichen Linken, neoliberalen Schwätzern und fashion victims aller Art in Aussicht stellt. „Meine Sicht war die eines scharfen Beobachters gesellschaftlicher Ereignisse, also die eines Balzac-Anhängers der Kategorie medium light.“

Was soll das dann sein? Die Rettung der weithin gewichtslosen französischen Gegenwartsliteratur aus dem Geiste eines mittelgewichtigen Einzelkämpfers? Unterhaltungsliteratur für die höheren intellektuellen Stände? „Die Möglichkeit einer Insel“ ist zunächst ein Science-Fiction-Roman aus einer fernen Zukunft. Die Menschheit, wie wir sie kennen, hat sich aufgelöst und ist in eine geklonte, radikal verkleinerte und in den Trümmern der alten Welt lebende Neo-Menschheit übergegangen: „besänftigt, rational und fern von Lust und Leid“. Houellebecq kontrastiert die autobiografischen Aufzeichnungen eines letzten Menschen, Daniel1, mit den Notizen zweier Neo-Menschen, Daniel24 und Daniel25, die über das Studium des Lebensberichts von Daniel1 zu ergründen versuchen, welche humanen Reste sie noch in sich tragen.

Das Elend der Konstruktion beginnt damit, dass Gegenwart und Zukunft miserabel ausbalanciert sind: Zu den Neo-Menschen ist Houellebecq schon vom Umfang her wenig eingefallen, vielleicht weil einem dazu auch nicht viel einfallen kann. Denn wenn die neuen Menschen den Kapitalismus einmal besiegt haben und sich libidinös sediert ihres Lebens freuen könnten, wird es auf Erden erst recht grau und leer. Bleibt die zeitkritische Ausmalung des Schicksals von Daniel1 – Houellebecq comme toujours.

Als zynischer Sprücheclown reitet Daniel1 umjubelt von Bühne zu Bühne: ein selbst ernannter Humorist, der „genau wie der Revolutionär“ auf die „Brutalität der Welt“ antwortet mit „noch größerer Brutalität“. Er verzehrt sich zwischen der Liebe, verkörpert durch Isabelle, und dem Sex, verkörpert durch Esther, und sucht am Ende sein Heil im Unheil des Selbstmords: ein Kerl, dem auf Erden nicht zu helfen war: „Der einzige Ort, an dem ich mich je wirklich wohl gefühlt hatte, war in den Armen einer Frau, wenn ich tief in ihrer Scheide steckte.“

Nebenbei erfährt man allerlei Wissenswertes über schnelle Autos und Hunde, zwei Leidenschaften, denen Daniel1 genauso frönt wie sein Erfinder. Und man gerät unter die Elohim, eine betrügerische Sekte, in der sich die künftige Weltreligion und die geklonte Neo-Menschheit ankündigen: ein den amerikanischen Raelianern und ihrer Firma Clonaid nicht unähnlicher Haufen von Verschwörern.

Das Eindringlichste sind wie immer die essayistischen Passagen: Vor allem die Ausfälle gegen den „Schmerz des Alterns“, der das Glücksversprechen Sex aufbraucht, gehen über das gehässige Deuten auf fremde Körper, wie es noch Houellebecqs durch das Klonthema verwandten Roman „Elementarteilchen“ durchzog, hinaus. Sie schließen den Spott über den eigenen Verfall ein.

Und doch ist „Die Möglichkeit einer Insel“ ungeachtet einiger satirischer Glanzstücke eine mühselige, ermüdende Lektüre. Zum Ersten kocht Houellebecq seine Ideen nach seinem unübertoffenen Prosadebüt „Ausweitung der Kampfzone“ und seinem Roman „Plattform“, zum nunmehr vierten Mal fast unverändert auf, auch wenn er in seiner Art der selbstreflexiven Entschuldigung zugibt: „Talentierte Leute werden im Allgemeinen durch ein oder zwei Werke bekannt, nicht mehr, denn im Grunde ist es ja schon erstaunlich, dass ein Mensch überhaupt ein oder zwei Dinge zu sagen hat.“ Zum Zweiten muss man ertragen lernen, dass alles, worum es in seinen Romanen geht, bis ins Detail ausgesprochen wird.

Wer etwas mitzuteilen hat, soll Leitartikel schreiben, Manifeste an Türen nageln, oder, wenn es sein muss, eine Partei gründen. Aber er braucht nicht Romane zu schreiben, mit Figuren, die nur Hüllen von Meinungen sind. Er soll lieber gleich Essays verfassen, wie Houellebecq selbst es glänzend versteht. Deshalb kann man noch hundertmal sein widerspenstiges, sich Stilanstrengungen bewusst verschließendes Schreiben rühmen: Was das Literarische an seinen Büchern ausmacht, bleibt offen. Und was dessen Anschein erweckt, ist eine öde, unrhythmische, aus den Schlacken des 19. Jahrhunderts bestehende Beschreibungsprosa, in die er unterwegs hineinpfeffert, was ihm so unterkommt: der Besuch am Kleist-Grab während seines LCB-Aufenthalts am Berliner Wannsee oder der Kannibale von Rothenburg.

Wenn Houellebecq seinen Kritikern den Wind auch in dieser Hinsicht aus den Segeln nehmen will, indem er erklärt, dass die Verfasser des „ersten neo-menschlichen Werks“ sich beim Schreiben „von ‚Bedienungsanleitungen für Elektrogeräte mittlerer Größe und Komplexität, insbesondere von jener für den Videorecorder JVC HR-DV3S/MS“ anregen lassen, ist das leider nur das ironische Siegel einer gut gefederten Einfallslosigkeit. Keine Frage: Es muss auch pamphletistische Autoren geben. Aber wenn man eine Ahnung hat, mit welcher Endgültigkeit Cioran die Missgeburt Mensch verabschiedet und mit welcher Kälte Céline Körper beschreibt, wie der Dämon des Sexuellen an Philip Roths Helden frisst und der Schmerz des Alterns, übrigens auch im Hinblick auf erotische Marktwerte, die letzten Bücher von J.M. Coetzee durchzieht – dann macht Houellebecq eine schlechte Figur.

Houellebecq ist übrigens vom selben Affen gebissen wie die Neurowissenschaftler, die in jeder menschlichen Regung nur hirnchemische Prozesse erkennen. Der Wille, die Liebe, die Religion: Alles versuchen sie in einem reduktionistischen Aufwasch als neuronal determinierte Illusion zu enttarnen. Und so will auch Houellebecq dem menschlichen Theater die Maske vom Gesicht reißen – nur dass seine Welterklärungsformel Sex heißt. „Die menschlichen Lebensberichte zeigten uns zum Beispiel ganz deutlich, dass die im Namen der Gesundheit unternommenen Bemühungen, die äußere Erscheinung zu erhalten, nur dazu dienten, Erfolge beim anderen Geschlecht zu erzielen“, lässt er einen Neo-Menschen analysieren.

Was uns hier wie dort als tiefe Einsicht verkauft wird, ist in Wahrheit aber eine Banalität: Natürlich lässt sich das Leben vom Zähneputzen bis zum Gelderwerb als große Verneigung vor dem Götzen Sex darstellen. Aber was ist damit gewonnen? Und nimmt es auch nur einer menschlichen Handlung ihren Eigensinn? Der Rest ist Dekoration, nicht Revolution, um die Antithese zu gebrauchen, der sein Komikerheld anhängt und ansonsten alles tut, um das „Image als rechter Anarchist zu verstärken“. Also nennt Daniel1 die Araber das „Geschmeiß Allahs“ und die Juden „beschnittene Wanzen“, nimmt eine Rap-CD unter dem Titel „Fick die Beduinen – Tribute to Ariel Sharon“ auf, inszeniert eine Show namens „Am liebsten Gruppensex mit Palästinenserinnen“ und plant einen Porno namens „Gras mir den Gazastreifen ab (mein dicker jüdischer Siedler)“.Wenn Houellebecq als Zeitkritiker ernst genommen werden will, braucht er ein paar radikale (und neue) Gedanken mehr und einige schlechte Witze weniger.

Zum ThemaTagesspiegel Online: Literatur Spezial ServiceOnline bestellen:"Die Möglichkeit einer Insel" Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel. Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont, Köln 2005. 443 Seiten, 22,90 €.

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