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Mittelerfolgreicher Künstler. Und sich in Berlin selbst abhanden gekommen: Jörg Pose in Fritz Katers Stück "Buch".

© Arno Declair

Saisonauftakt am Deutschen Theater Berlin: Der Mensch bleibt Laie

Midlife-Crisis, Grundsatzfragen: Das Deutsche Theater eröffnet die Saison mit einer Roman-Adaption von Max Frisch und einem Stück von Fritz Kater.

Am Ende von Fritz Katers Stück „Buch. Berlin“ steht ein mitteljunger, mittelerfolgreicher Künstler auf der Kammerbühne des Deutschen Theaters und fragt sich, wo dieser Typ eigentlich abgeblieben ist, der er ursprünglich mal hatte werden wollen. Und wer das überhaupt gleich noch mal war. Erwartungsgemäß findet der zwischen Berlin, Venedig und dem Hunsrück pendelnde Kreativ-Jetsetter darauf keine Antwort. Das Einzige, was er sicher weiß, ist, dass er diesen Typen „lange nicht gesehen“ hat.

Klassischer Fall von Midlife-Crisis? Nicht nur. Das Deutsche Theater Berlin schwingt sich zu Spielzeitbeginn über sattsam abgegraste Bobo-Marotten weit hinaus und stellt, in gleich zwei programmatischen Saisonauftakt-Premieren, den schwierigen Job des Menschseins an sich zur Debatte. Der erste Abend – Max Frischs für die Bühne adaptierte Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ im großen Haus – geht die Sache eher philosophisch an. Der zweite Abend, eben Katers „Buch“ mit dem Untertitel „5 ingredientes de la vida“, erzählt vergleichsweise gegenständlich von einer ziemlich populären Überlebensdroge namens Utopie und ihrer unerbittlichen Verflüchtigung mit steigendem Lebensalter.

Teenager-Knutschereien und Elefantenherden

Fritz Kater, bekanntermaßen das Autoren-Alias des Regisseurs Armin Petras, springt in seinem Geschichtsdrama locker zwischen 1966 und 2016, verknüpft Ost und West, schneidet 80er-Jahre-Teenager-Knutschereien an Randberliner Seen gegen bedrohte Elefantenherden in Afrika. Ausgangspunkt ist ein Kongress im US-amerikanischen Arizona der 1960er Jahre, auf dem internationale Naturwissenschaftler an einer vollständig sorgenbefreiten Art schöner neuer Welt herumbasteln. Der junge Delegierte aus der DDR, Ernst, wird leider nicht der Einzige bleiben, bei dem sich das prophezeite Paradies dann doch nicht einstellt. Als alkoholkranker Zweifler bringt er einen großen Teil seines Lebens in genau jenem Krankenhaus in Berlin-Buch zu, in dem drei Jahrzehnte später auch der sich selbst abhandengekommene Künstler um sein todkrankes Kind kämpft. Und um seine gleichermaßen vom Utopieschwundvirus befallene Beziehung.

Armin Petras selbst hatte das Stück seines Autoren-Alter-Egos letztes Jahr an den Münchner Kammerspielen urinszeniert und dabei in bewährter Manier gegen den gelegentlich drohenden Pathos-Strich gebürstet: Ein großer Abend.

Dagegen greift nun Tilmann Köhler in seiner Regieversion in der DT-Kammer häufig zur nächstliegenden Bebilderung – und gern auch mal in gefährliche Kitschnähe. Spät-DDR-Teenager-Auseinandersetzungen, auch mit der Elterngeneration, werden mittels E-Gitarre illustriert, und während etwa Linn Reusse als bedrohte Jungelefantin auf minimalistischer Bühne dem Publikum ihr existenzielles Leid entgegenschreit, rennt ihr Kollege Christoph Franken gern herdentierisch untermalend auf und ab. Intensität erreicht der Abend im letzten Teil dank des Spiels von Matthias Reichwald und Wiebke Mollenhauer, weil sie als Paar in ihrem Kampf um das todkranke Kind und um- (oder gegen-)einander auch solche Differenzierungsregister ziehen, die nicht gleich offen auf der Hand liegen.

Sisyphos lässt grüßen

All das dürfte Herr Geiser aus Max Frischs 1979 erschienener Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“, die der Regisseur Thom Luz nebenan auf der großen Bühne zeigt, längst hinter sich haben. Der ist nämlich bereits in höheren Erkenntnissphären unterwegs. „Der Mensch bleibt ein Laie“, weiß Herr Geiser – und schafft dieser prinzipiell ernüchternden Erkenntnis zum Trotz durchaus Erstaunliches. Denn so, wie Ulrich Matthes diesen Geiser spielt – sehr leise, ganz bei sich und im strukturellen Daseinsdilemma auf eine irgendwie weise Art mit sich selbst grundversöhnt –, bekommt der Satz vom dilettierenden Homo sapiens tatsächlich fast etwas Erbauliches. Dass man dafür auch einen entsprechend langen Atem braucht, ist beabsichtigt und liegt in der Natur des Frisch-Textes.

Dessen 73-jähriger Protagonist lebt nach dem Tod seiner Frau abgeschieden im schweizerischen Tessin und arbeitet sowohl gegen eine drohende Naturkatastrophe als auch gegen das eigene Alter an. Unermüdlich wälzt Herr Geiser also Lexika, Sachbücher oder auch die Bibel, schreibt sie passagenweise ab und hortet sein enzyklopädisches Wissen im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit auf Zetteln an den Wänden: Sisyphos lässt grüßen. Viel mehr passiert konsequenterweise nicht in Frischs existenzialistisch angehauchtem späten Text.

Im Grundsatz versöhnlich-poetisch

Dem jungen Schweizer Regisseur Thom Luz, der in seinen durch die Marthaler-Schule gegangenen Musiktheaterabenden seit jeher selbst eher enzyklopädisch als narrativ arbeitet und sich prinzipiell stärker für Atmosphären und Zustände auf der Bühne interessiert als für lineare Erzählstränge, kommt das sehr entgegen. In seiner ersten Arbeit am Berliner DT taucht der 34-Jährige das symbolträchtige Geiser-Universum denn auch in schmerzschöne Kompositionen von Bach über Beethoven bis Bartók sowie in formvollendete Bühnennebel-Bilder: alles von geradezu wohltemperierter Melancholie. Während andere Regisseure diesem Geiser’schen Menscheitsendspiel vermutlich auch härtere, düsterere Nuancen abgerungen hätten, bleibt Luz im Grundsatz versöhnlich-poetisch – worüber man natürlich allzumenschlich geteilter Meinung sein kann.

Andererseits dürfte die große Grundsatzfrage, was aus diesem Menschen eigentlich geworden ist, der man ursprünglich mal werden wollte, bei Weitem nicht zum letzten Mal gestellt worden sein in dieser DT-Saison. Da geht so eine kleine Erbauungshypothek zu Beginn schon in Ordnung.

„Der Mensch erscheint im Holozän“ wieder am 28. September und 7. Oktober, 20 Uhr; „Buch“ wieder am 28. September und 6. Oktober, 20 Uhr.

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