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Armida

© AFP

Salzburger Festspiele: Liebe, Wahnsinn, Psychoterror

Zum Auftakt der Salzburger Festspiele: Joseph Haydns Oper „Armida“ und Thomas Bernhards „Fest für Boris“.

Am Ende, als er nicht mehr weiter weiß, schleppt Rinaldo einen Benzinkanister herbei, zieht eine lange, nasse Spur entlang der Rampe, übergießt sich schließlich selber. Das Feuerzeug spuckt ein winziges Flämmchen aus. Und dann traut er sich doch nicht. Mal wieder. Aus dem Lagerlautsprecher scheppert Militärmusik, die ganze Bühnentruppe nimmt Haltung an: „Oh ungerechtes und hartes Schicksal, oh bittere Trennung, die allen Verliebten ewig ein Beispiel sein wird!“

Nach dem Mozart-Marathon von 2006 – alle 22 Bühnenwerke des großen Sohnes der Stadt zu Ehren seines 250. Geburtstags – musste zur Eröffnung der diesjährigen Salzburger Festspiele der Hausgott einmal schweigen. Stattdessen setzte der neue Intendant Jürgen Flimm bauernschlau Joseph Haydns „Armida“ an: klanglich nahe genug dran am Wolferl-Sound, um die Stammkundschaft nicht zu verschrecken, und doch eine Rarität im sommerlichen Festivalzirkus. Als Urvater der klassischen Sinfonie und des Streichquartetts bis heute geschätzt, sah sich Haydn selber in erster Linie als Opernkomponist. 1766 trat er seinen Dienst beim Fürsten Esterhazy an, einem glühenden Musiktheaterfan, der in seiner isolierten Sommerresidenz eine eigene Operntruppe beschäftigte. Hier, in der ungarischen Provinz, experimentierte Haydn mit den alten Formen der barocken opera seria, arbeitete bekannte Libretti nach eigenen Vorstellungen um.

Von der „Armida“-Episode aus Tassos „Gerusalemme liberata“ hatten sich schon unzählige Komponisten Inspiration erhofft, darunter Händel, Gluck und Lully. Haydn suchte einen zeitgemäßen Zugang zu dem blutigen Kreuzzugsdrama, indem er den Konflikt ganz auf Rinaldos Zerrissenheit zwischen seiner Liebe zur Sarazenen-Prinzessin Armida und seinen ritterlichen Pflichten fokussierte. Drei Mal versucht Rinaldo, sich aus den Armen der Geliebten loszureißen, drei Mal scheitert er.

Ein zeitloser Stoff, den Christoph Loy in seiner Inszenierung folgerichtig in einem unbestimmten Heute ansiedelt. Kostümdesignerin Bettina Walter erweitert das vom Regietheater tausendmal durchdeklinierte Schurkenstaaten-Bildrepertoire um eine weitere Facette der Uniformmode, Bühnenbildner Dirk Becker steuert eine Installation bei: rechts ein gigantischer ungehobelter Holzklotz, in der Mitte hoch aufgeschichtetes Sperrholz, das sich bestens beturnen lässt, links eine steil ansteigende Spielfläche als Zaunpfahl-Symbol der prekären Lage.

Loy bewegt die Figuren virtuos und hat mit Annette Dasch zudem eine furchtlose Titelheldin, die sich mit dem letzten Arienton auch schon mal vom Gipfel der Rampe in die Tiefe stürzt. Weil Haydn auf Schloss Esterhazy kein Chor zur Verfügung stand, füllen in Salzburg drei Dutzend durchtrainierter Statisten die Szene, die immer wieder mit martialischem Gedröhn querfeldein rennen.

Zum Ort der Aufführung nimmt die Inszenierung noch nicht einmal Witterung auf: Dabei gehört die Felsenreitschule, diese barocke Arena mit ihren drei dem Berg abgerungenen Laubengangreihen, zu den spektakulärsten Spielstätten der Welt. Loy entledigt sich des Dilemmas, ein psychologisches Kammerspiel vor diesem Cinemascope-Panorama spielen zu müssen, indem er den Raum ignoriert. Überhaupt auf die Idee gekommen zu sein, „Armida“ hier anzusetzen, erzählt dagegen einiges über die gedankliche Fahrlässigkeit der Festspielleitung.

So bleibt die spannendste Erkenntnis eine musikalische: wie groß nämlich letztlich die Kluft ist, die den Opernkomponisten Haydn vom Musikdramatiker Mozart unterscheidet. Bei Mozart treten die Sänger in Dialog miteinander und werden zu Menschen. Bei Haydn halten sie Monologe. Darum geht der Beziehungskrach mit handgreiflichem Gerangel zwischen Annette Dasch und ihrem Rinaldo Michael Schade im zweiten Akt nicht zu Herzen, sondern berührt peinlich. Hier stirbt jeder für sich allein.

Haydn, das macht auch Dirigent Ivor Bolton ganz deutlich, ist verwurzelt in einer Ästhetik, die das Allgemeingültige über das Individuelle stellt. Seelenstürme werden mit denselben Mitteln dargestellt wie Unwetter. Und Bolton gelingt mit dem grandios vorbereiteten Salzburger Mozarteum Orchester eine blendende Farbenpracht. Jede Melodielinie, jede Begleitfloskel tritt hervor wie gipserne Puttenärmchen oder Kriegersandalen aus barocken Deckengemälden.

Annette Dasch führt in der Eröffnungsarie noch die Koloraturen im Munde als wären es extrascharfe Chilischoten – kein Wunder: Wer die Oper kennt, hat Nikolaus Harnoncourts 2000er Einspielung im Ohr, mit der Ehrfurcht gebietenden Cecilia Bartoli als Armida. Bald aber lässt sich die 31-jährige Berlinerin vom Applaus ermutigen und geht auf volles Risiko, schleudert Spitzentöne bis zum wüsten Furiengeheul. Der perfekte Kontrast zu Mojca Erdmanns lockend-lockerem Sexappeal: Dieser Soldatenbraut Zelmira kann allein Vito Priantes asketischer Idreno widerstehen; das Premierenpublikum liegt ihr zu Füßen wie weiland die Hauptstädter in ihrer Zeit bei der Komischen Oper. Gleich drei Tenöre fordert die Partitur – und das Trio, das in Salzburg aufgeboten wird, könnte jedes Stadion füllen: Michael Schade ist mit seiner vielschichtigen Textbehandlung der Rhetoriker, Richard Croft mit traumschön aufblühenden Tönen der Poet. Bernard Richter schließlich begeistert als Jungspund Clotarco mit filmreifen Stunts und feuriger Leidenschaft. So wie Rinaldo selbst im Finale noch zwischen Liebe und Pflicht schwankt, sucht auch Haydn in dieser Oper vergeblich nach dem rechten Ton für die beiden Seelen in des Menschen Brust. Frederik Hanssen

Diese fette alte Frau ist ein Monstrum. Im fleischfarbenen Unterrock, das graue Haar gesträubt, die nackten Beine von sich gestreckt, thront sie in einem Fernsehfauteuil an der Rampe. Mit aufgerissenen, feucht schwimmenden Augen lauscht sie der Frauenstimme, die von einem 60er-Jahre-Plattenspieler kommt: eins von Wagners sehnsuchtsvollen Wesendonk-Liedern. Mal dirigiert sie versunken mit, mal bedeutet sie dem Mädchen mit dem Tablett neben ihr herrisch, Kunstaufmerksamkeit zu zeigen.

Viviane de Muynck, die niederländische Extremschauspielerin, ist das Ereignis in „Ein Fest für Boris“ von Thomas Bernhard, der ersten Schauspielpremiere der Salzburger Festspiele im Landestheater. Mit physischer Wucht und leichtem Akzent wischt sie gleich in den ersten Minuten die Erinnerung an die Peymann/Hermann'sche Blitzblankästhetik weg, die kurioserweise 1970 mit „Ein Fest für Boris“ in Hamburg begann, um dann in Salzburg mit „Der Ignorant und der Wahnsinnige“, „Am Ziel“ und „Der Theatermacher“ kanonisiert zu werden.

Genau genommen ignoriert sie Christiane Pohle, die gewitzte Regisseurin vom Jahrgang 1968, nicht einmal, und das ist gut so. Denn dieses erste abendfüllende, von Bernhard ursprünglich für den Salzburger Domplatz konzipierte Stück, trägt die Schlacken seiner Zeit – und eines noch suchenden Autors. Eine Über-Frau, Ahnherrin künftiger Bernhard'scher Sprechautomaten, exponiert in zwei Vorspielen ihre Geschichte: Die vermögende Witwe, „Die Gute“ genannt, verlor beim Sturz in einen Lichtschacht Mann und Beine und lässt sich seitdem von Johanna, der Dienerin, im Rollstuhl versorgen. Dazu hat sie sich aus dem benachbarten Asyl Boris, den beinlosen, nahezu stummen Krüppel mit schwerer Kindheit geholt und geheiratet.

Zum zweiten Vorspiel erscheinen die „Gute“ und Johanna in den Kostümen eines Maskenballs, der dazwischen stattfand: die eine als Königin, die andere mit Schweinsmaske. Zum abschließenden Fest, Boris’ Geburtstag, sind dessen Leidensgenossen aus dem Asyl eingeladen – penible Regieanweisung: „13 beinlose Krüppel in Rollstühlen“. Die „Wohltat“ gibt Boris den Rest: Wild auf die geschenkte Pauke hauend, trommelt er sich zu Tode, was die „Gute“ in Höllengelächter ausbrechen lässt. Nichts von dem Grand-Guignol-Panoptikum bei Pohle und ihrer Ausstatterin Annette Kurz. Leerer, schwarzer Raum, in dem sich, synchron mit einem Kronleuchter, die parkettbelegte Drehbühne langsam, knirschend, existenzzermahlend dreht.

Vorn die „Gute“ im Fauteuil, weit hinten im Bett Boris, der bei Thomas Wodianka, mit weißem Hemd und angedeuteter Beinlähmung, die Anmutung von Hamlet hat. In debilem Autismus drapiert er sich mal das Kissen auf den Kopf, mal liest er in einem Buch. Von der „Guten“ empfängt er Erziehungsdirektiven („Hast du das Kapitel gelesen?“), mit Johanna, der Nadine Geyersbach eine nervöse, androgyne Kontur gibt, verbindet ihn unerlöste Erotik. Ein Netz atemabschnürender Abhängigkeit wird sichtbar, eine Folie à trois voller verdeckter, plötzlich hervorbrechender Sehnsüchte.

Warum funktioniert das so zwanglos mit Bernhards Text? Weil Christiane Pohle nichts anderes tut, als dessen Tiefenstruktur freizulegen. Bernhard, man kann es im Kommentar der Suhrkamp-Werkausgabe nachlesen, verkleidete in dem Modell seine Abhängigkeit von Hedwig Stavianicek, der vermögenden Wiener Hofratswitwe, die ihn als mittellosen Jungautor unter ihre Fittiche nahm. In einer frühen Fassung trägt die „Gute“ sogar einmal den Namen Hedwig.

Das Finale bekommt den stärksten Relaunch. Marthalerhafte Männer flezen herum und paffen geschenkte Zigarren, während eine Combo aufspielt und das Geburtstagskind, ganz in Weiß mit Honolulu-Blumenkette, sich zentimenterweise zäh ins Abseits schiebt. Doch Christiane Pohle belässt es nicht bei Bernhards Bild vom Künstler und der gleichgültigen Gesellschaft. Thomas Wodianka (man hat ihn bei Meg Stuart schon furios tanzen sehen) bricht plötzlich, die Beine nachziehend, mit seinem Fauteuil in einen kreiselnden Pas de deux aus. Und es ist Johanna, die ihn in einem Ansprung erledigt: Koitus und Tod in eins. Das gestörte System von Herrin und Dienerin ist wiederhergestellt. Für eine Salzburger Dramaturgie war dieses „Fest für Boris“ ein bejubeltes Statement. Nur Alt-Bernhardianer murrten, naturgemäß, vernehmlich.

Andres Müry

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