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Volles Haus, trotz allem. Kirsten Harms im Foyer der Charlottenburger Oper. Foto: ddp

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Kultur: Samt im Getriebe

Was bleibt? Nach sieben Jahren endet die Intendanz von Kirsten Harms an der Deutschen Oper Berlin

Man sucht den Hinweis vergebens: „Erfolg gefährdet Ihre Gesundheit.“ Steht weder vorne drauf noch hinten drin, nicht im Klappentext, nicht in der Einleitung, nirgends. Doch was, wenn einem dieser Zweikommafünf-Kilo-Wälzer aus Versehen auf den Fuß fiele oder man ihn als Wurfgeschoss zweckentfremdete? Das Wehklagen wäre groß, die Folgen und Blessuren, ja, schwerwiegend.

Zum Finale ihrer Intendanz an der Deutschen Oper Berlin schenkt sich Kirsten Harms (mithilfe des Fördervereins) ein „Siebenjahrbuch“: 512 Seiten in Gold, 300 Fotos, Chroniken, Bilanzen, Dokumentationen, Diskussionen und Essays von der „Idomeneo“-Debatte bis zur „Liebe der Danae“ für 39,95 Euro. Eine Bibel, für die es nur zwei Erklärungen gibt. Entweder die weiße Dame – wie Harms ihrer Vorliebe für helle Kleidung wegen und in Anlehnung an Boieldieus gleichnamige Oper gerne genannt wird – will damit das Ende der Bescheidenheit einläuten, besser spät als nie. Oder an der Bismarckstraße ist endgültig der Größenwahn ausgebrochen. Die perfekte Mischung aus beidem macht es durchaus kompliziert, die „Ära“ Harms ausgewogen zu resümieren.

Dass die Gefühlsgewissheiten von Presse und Publikum differieren, erheblich differieren, gehört mit zum Geschäft und hat ruhmreiche Intendanten wie Klaus Zehelein in Stuttgart, Peter Jonas in München oder Gérard Mortier in Salzburg erst groß gemacht. Auch Götz Friedrich übrigens, Harms’ berühmter Vorgänger im Amt und wie sie ausübender Künstler, pflegte anzuecken. Das Klischee besagt hier: Die Presse jubelt, und das Publikum bleibt weg.

An der Deutschen Oper Berlin verhält sich das in den vergangenen sieben Jahren oft umgekehrt: Die Presse mäkelt und mault, regional wie überregional – und das Publikum strömt. Nicht von Anfang an, nein, dazu sind die kulturpolitischen Irritationen der Jahrtausendwende zu gravierend, das Intermezzo Udo Zimmermanns zu schwierig, der Abgang Christian Thielemanns als Generalmusikdirektor zu traumatisch. Mit großen Sängernamen aber wie Edita Gruberova und Juan Diego Florez und den großen Stücken festigt sich bald nach Kirsten Harms’ offiziellem Antritt 2006 auch das Charlottenburger Selbstbewusstsein wieder. Das ist ein enormes, keinesfalls gering zu schätzendes Verdienst. Der Oper die Menschen zurückzugeben und den Menschen ihre Oper: Wer kann das in Zeiten von Etatkürzungen und Strukturdebatten schon von sich behaupten? Die Opernstiftung mag zu dieser Konsolidierung das Ihre beigetragen haben, allen wechselnden Generaldirektoren zum Trotz; die Arbeitsleistung aber hat das Haus selbst erbracht.

Überhaupt weiß Harms die Zahlen auf ihrer Seite, und diese lassen sich im „Siebenjahrbuch“ weidlich studieren, in allerlei schönen Kurven, Statistiken und Diagrammen. Demnach ist die Platzausnutzung zwischen 2005 und 2010 von 60 Prozent auf 81,6 Prozent geschnellt, die Eigeneinnahmen aus Kartenerlösen stiegen von 5,5 Millionen Euro auf 9,3 Millionen Euro (bei einem Gesamtetat von 50 Millionen Euro), und auch im gastronomischen Bereich sind, seit es neue Bars und ein echtes Restaurant gibt und den Götz- Friedrich-Platz mit Designer-Springbrunnen, nur Zugewinne zu vermelden (aktuell 1,4 Millionen Euro gegenüber ehedem 300 000 Euro). Vertrieb und Service wurden vollständig umorganisiert, das Parkhaus, die Untermaschinerie, die Pforte, die Beleuchtungsanlage in den Foyers und einiges mehr saniert. Kurzum: Das Gebäude steht gut da. Und der Laden brummt. „Keines der Berliner Opernhäuser hat mehr Zuschauer, keines zugleich ein treueres Publikum“, freut sich das „Siebenjahrbuch“.

Bei ihrem künstlerischen Team beweist Kirsten Harms ein weniger glückliches Händchen. Kennt noch jemand ihren Chefregisseur Alexander von Pfeil, der außerhalb der Berliner Stadtgrenzen wahre Wundertaten vollbracht haben soll, sich an der Bismarckstraße jedoch nur zu Halbausgegorenem wie „Arabella“ (2006) und dem „Freischütz“ (2007) imstande sah? Auch andere Kräfte zündeten nicht, seltsamerweise gerade die jüngeren: Katharina Wagners „Trittico“ (2006) erhitzte mit rauchender Madonna zwar die Gemüter, verhedderte sich ansonsten aber im dramaturgischen Konzeptkauderwelsch. Und Tatjana Gürbacas „Fliegender Holländer“ (2008) krankte nicht nur am Globalisierungsreflex, sondern auch an sehr mäßigen Sängerleistungen.

Apropos „Freischütz“: Wie um alles in der Welt konnte Harms eigentlich auf Renato Palumbo als Generalmusikdirektor verfallen? Sein vermurkster Jägerchor ist Legende, überhaupt machte der Italiener einen seltsam lustlosen Eindruck. Nach nur vierzehn Monaten warf er das Handtuch, das Orchester blieb kopf- und führungslos zurück, unüberhörbar (was durch Pultgäste wie Ulf Schirmer, Jacques Lacombe oder Yves Abel nicht zu kompensieren war). Erst mit der Bestellung von Donald Runnicles im Herbst 2009 kehrte an dieser Front Ruhe ein. Der bodenständige Schotte wird die Deutsche Oper in der Interimsspielzeit 2011/12 alleine leiten, Harms’ Nachfolger Dietmar Schwarz steht erst ab 2012 zur Verfügung. Und sie selbst war nach allem wenig schmeichelhaften Hin und Her zu Recht nicht mehr gewillt, ihren Vertrag um ein zusätzliches Jahr zu verlängern.

Hat die Berliner Kulturpolitik zu früh die Nerven verloren? Schickt sie eine Intendantin in die Wüste, die gerade erst anfängt, die Früchte aller Mühsal zu ernten? Mag sein. Sicher hat Kirsten Harms um ihr Tun zu wenig Gewese gemacht, Frauen sind so. Andererseits schien die ästhetische Richtung, in die sie das Haus lenkte, nicht so verführerisch, so zukunftsträchtig zu sein, dass man sich ihr fraglos weiter anvertraut hätte. Harms’ Herz hängt an Ausgrabungen wie Alberto Franchettis „Germania“, Ottorino Respighis „Marie Victoire“ oder Vittorio Gnecchis „Cassandre“: Haben diese Stücke das Repertoire tatsächlich aufgemischt, Gewichte verschoben? Bisweilen kam einem diese Schiene vor wie die Rechtfertigung längst vergangener Regiestile: dem eines Johannes Schaaf oder auch dem der Hausherrin selbst. Viel psychologisches Bildertheater in prallen Farben, die Achtzigerjahre lassen grüßen.

Einzig Walter Braunfels’ „Jeanne d'Arc“ in der Inszenierung des todkranken Christoph Schlingensief erregte 2008 an der Bismarckstraße echtes Aufsehen. Die Krebs-Lunge, die da riesenhaft über der Bühne schwebte, war Ausdruck eines existenziellen Überlebenswillens: des Hauses, der Gattung, ja der ganzen Welt. Plötzlich machte einer nicht auf Oper, sondern sprach von sich selbst, unerträglich hypertroph, eine Scharlatanerie, welche Zumutung.

Und plötzlich war es einem ganz egal, ob diese Musik eigens ausgegraben werden musste oder nicht – plötzlich ging es im Bornemann-Bau nur noch um Leben und um Tod. Dass einer wie Schlingensief draufgehen muss, damit Kunst so etwas leistet, gehört zu den Zynismen des Kulturbetriebs.

Ähnliche künstlerische Glücksfälle? Rar gesät. Wobei Kirsten Harms schon auch selbst dafür gesorgt hat, dass das Vertrauen in ihre Führungskraft frühzeitig erschüttert wurde. Die Art und Weise, wie sie, von der Politik im Stich gelassen, mit der „Idomeneo“-Affäre von 2006 umging, offenbarte einen solchen Wankelmut, dass man diesen fortan leicht überall witterte. Das Ansinnen, Hans Neuenfels’ Inszenierung abzusetzen, weil sich islamistische Kreise angeblich am abgehauenen Haupt des Propheten Mohammed stießen und mit Vergeltung drohten, stellte die Freiheit der Kunst zur Disposition – und zwar postwendend, klammheimlich und voller Angst. Ein schwerer Fauxpas.

Dass das „Siebenjahrbuch“ nun befindet, die Deutsche Oper Berlin habe sich mit und seit „Idomeneo“ zu einem „Debattenort“ entwickelt, „der im Bereich der Gegenwartsoper seinesgleichen sucht“, ist nur mit Chuzpe zu erklären (und gewiss nicht mit den seitenweise abgedruckten Wortbeiträgen diverser Diskussionsrunden). Oder mit dem Recht auf ein bisschen Schminke im eigenen Gesicht.

Mit einer Vorstellung von Wagners „Tannhäuser“ (ausverkauft) und einem Fest auf dem Götz-Friedrich-Platz (ab 22 Uhr) in Anwesenheit von Klaus Wowereit feiert Kirsten Harms am heutigen Samstag Abschied.

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