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Kultur: Satanische Verve

So schnell ändern sich die Perspektiven. Eben noch zitiert Karl Heinz Bohrer, lange in Paris lebender und in Bielefeld lehrender Herausgeber des in Berlin-Charlottenburg ansässigen "Merkur" (der "Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken"), ein berühmtes Brecht-Diktum: "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.

So schnell ändern sich die Perspektiven. Eben noch zitiert Karl Heinz Bohrer, lange in Paris lebender und in Bielefeld lehrender Herausgeber des in Berlin-Charlottenburg ansässigen "Merkur" (der "Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken"), ein berühmtes Brecht-Diktum: "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat." Der Satz fällt Bohrer ein, als er in einem Essay über"Friedrich II., Preußen und der 20. Juli" an die Gesichter der Verschwörer denkt: an ihren Glauben, sich aus preußischem Offiziersethos zu opfern - während "am Horizont die angelsächsischen Soldaten mit einer anderen Idee von Menschlichkeit auftauchen". Und heute leben wir, fern dieser Erinnerung, "unter ganz anderen sozialen Codices", die "auch schwierig" seien, aber jedenfalls "keine heroischen mehr". Von wegen.

Karl Heinz Bohrer ist ein anarchisch konservativer Feuerkopf (im Sinne Baudelaires, Nietzsches oder Benns), ein Mann mit scharfem ästhetisch-zeitphilosophischen Sinn; er und sein ebenso geistvoller Mitherausgeber Kurt Scheel schicken uns mit ihrem "Merkur" Monat für Monat so etwas wie den Spitzenboten der intellektuellen Szene ins Haus. Diesmal hat er, aus aktuellem Anlass, auch ein paar Sprengbömbchen im geistigen Gepäck. Als nämlich in die Vorbereitung des Novemberhefts der 11. September platzte, beschloss der sonst so zivile "Merkur" eine martialische Zeitenwende. Bohrer schreibt im Editorial (30 Seiten vor dem Preußen-Aufsatz), dass sich mit der "Standfestigkeit des sozialdemokratischen Kanzlers und des grünen Außenministers" nunmehr ein "epochaler Wechsel der politischen Moral" ankündige. Und damit ein mögliches Ende jenes "politischen Provinzialismus der Deutschen", der sich noch darin zeige, dass zwar eine Mehrheit "für die Bestrafung der Terroristen" votiere, sich aber "gegen eine deutsche Beteiligung daran aussprach".

Schon immer war Bohrer ein brillanter Kritiker jenes bundesrepublikanischen juste milieu, das aus historischer Identitätsschwäche einem gratismütigen Multikulturalismus fröne (keine Ahnung von Kleist und Hegel, aber jeden italienischen oder indischen Kellner weltläufig geduzt). Auch jetzt erkennt er in der "Friedens- und Angstmetaphorik" vor allem eine "Sozialhelfermentalität und die utopische Flucht aus der Weltpolitik" - der die Bundesregierung mannhaft trotze. Bisher allerdings sei Deutschland "fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg weder mental noch physisch in der Lage, sich souverän als politisch-militärische Mittelmacht darzustellen".

Ein Ende der inneren Schwäche erhofft sich im Co-Editorial auch Kurt Scheel - für die Vereinigten Staaten. "Es könnte ja sein, daß das Vietnam-Trauma jetzt überwunden wird, und das wäre eine Segen für Amerika und für die Welt." Denn: "Die Marines wurden ja nicht in Vietnam, sondern zuerst in den USA besiegt, als die Unterstützung der Bevölkerung, der Medien, der Intellektuellen und eines großen Teils der politischen Klasse ausblieb." Hier sind die jahrzehntelang beschriebenen Stärken des Vietkong und alle geopolitischen Bedingungen nun plötzlich vom Tisch - und der Generalstab in der Charlottenburger Mommsenstraße präsentiert den Dolchstoß der Friedensbewegung als welthistorische Erklärung (und vorausweisendes militärisch-moralisches Menetekel?).

Der "Merkur" wünscht sich einen wehrhaften Westen. Und dass die Amerikaner nicht wie vor zehn Jahren kurz vor Bagdad und Saddam wieder nur halbe Sachen machen. Wer den Terrorismus besiegen will, wird dem kaum widersprechen. Aber die guten Geister des "Merkur" haben als Ursache des Terrors nur eine einzige Quelle ausgemacht - und der Feind heißt Islam. Es sind nicht nur islamistische (also die Religion übersteigernde oder missbrauchende) Fanatiker und deren an weltlicher, diktatorischer Macht interessierte Hintermänner und Stichwortgeber, die zum Gegner erklärt werden. Scheel, Bohrer und Siegfried Kohlhammer, der Autor eines nach sechs Jahren programmatisch nochmals nachgedruckten "Merkur"-Aufsatzes, vermischen in ihren Polemiken Politik und Religion fast ohne Trennschärfe und scheren Systeme, Kulturen und fast ein Drittel der Weltbevölkerung von Marokko bis Malaysia über einen groben Kamm. Egal ob Rushdie oder Taliban: "Der" Islam sei "eine unaufgeklärt gebliebene, frühmittelalterliche Religion", Pakistans Bombe ist die "islamische Atombombe", die Attentäter in Amerika seien "nicht dumm, aber ignorant gewesen", was "von Anfang an dafür sprach, dass es arabische Islamisten waren"; von "sektiererischem Mohammedanismus" ist die Rede und von "Obsessionen mit Sarajewo", was die Anteilnahme "westlicher Journalisten" am Schicksal der überiegend muslimischen Bevölkerung in der drei Jahre belagerten und beschossenen bosnischen Hauptstadt meint.

Nein, dieses geistige Spengbömbchen, in der ersten Erregung nach dem 11. September gezündet, ist doch nur: ein Knallfrosch. Und Merkur fliegt weiter.

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