zum Hauptinhalt

Kultur: Schall und Bauch

Lauter als ein Düsenjet: Wie die Boomcar-Szene sich in Prenzlauer Berg für ein mobiles Konzert trifft

Als der Bass einsetzt, beginnt der Wagen zu schwimmen, verschwimmt die Außenwelt. In den vibrierenden Seitenspiegeln von Chris’ schwarzem Golf erzittert die Stadt. André auf dem Beifahrersitz stellt die Hifi-Anlage noch ein wenig lauter. Eine alte Techno-Nummer findet den Weg durch zwei Verstärker und bäumt sich mit wummernden 120 Dezibel in den Lautsprechern und Subwoofern auf, so laut wie ein Düsenflugzeug. Das Beatstakkato zerhackt die Wahrnehmung, wummernd entrollt sich den Bassreflexröhren der Herzschlag von Maschinen, die immer unterwegs sind, auch wenn man selbst gerade auf einem Parkplatz steht.

„Naja“, sagt André lapidar, fummelt am Radio rum und sucht den nächsten Sender: Klassik diesmal. Der 34-jährige Besitzer eines Auto-Hifi-Ladens lebt von Klang und Krach. Er hat dem zehn Jahre jüngeren Hifi-Novizen Chris die Anlage in dessen Golf 4 eingebaut. 5000 Euro hat das bisher gekostet. Einiges könne er noch verbessern, meint André. Er weiß auch, dass Bastler wie er nie fertig sind. Das geht so seit 15 Jahren, „seitdem meine Eltern mir verboten haben, zu Hause Musik zu hören.“

André und Chris sind Protagonisten einer wachsenden Szene. Seitdem der erste VW-Käfer-Spoiler Anfang der fünfziger Jahre auf den Markt kam, rüsten vor allem junge, überwiegend männliche Vorstadtbewohner ihre Wagen auf, tunen den Motor, legen die Karosserie tiefer, steuern an Mini-Lenkrädern und auf breiten Felgen durchs Leben. Den vorläufigen Höhepunkt dieser fetischisierenden Verehrung markiert die überaus populäre Aufmotz-Show „Pimp My Ride“ auf MTV. Die Zeiten, in denen Auto-Tuning- Anhänger in Opel-Manta-Witzen als stumpfsinnige Proleten belächelt wurden, sind vorbei. Unbeirrt, mit viel Geschick und unstillbarem Größenwahn schreibt die Szene den Automythos fort – und eignet sich subkulturell Stadtraum an.

Mitte der achtziger Jahre entstand als Nebenzweig der amerikanischen Hip- Hop-Kultur die Car-Hifi-Bewegung, die das optische Blechlifting um ein akustisches ergänzte. Seit dem Siegeszug von Techno und Dance wummert es auch auf europäischen Straßen. Die Hifi-Freaks bilden heute eine eigene Szene, denn meist sind Audio-Equipment, zusätzliche Batterien und Kondensatoren teurer als das Auto selbst, und für visuelles Tuning bleibt kein Geld. Chris’ Golf jedenfalls ist bislang noch nicht aufgemotzt. Das tiefer gelegte Lebensgefühl lässt sich vorerst nur mit der Musikanlage erfahren.

Das hat den niederländischen Medienkünstler Sasker Scheerder fasziniert. Selbst kein Besitzer eines „Boomcars“, wie man in vielen Ländern die fahrenden Hifi-Monster nennt, trommelt er seit Jahren die Szene zu „Audio Drives“ zusammen. Auf Parkplätzen, in Parkhäusern und anderen autofreundlichen Umgebungen senden Mini-UKW-Sender wie im Autokino Signale aus, die vom Autoradio empfangen werden. In Berlin hat Scheerder sich eine alte, stillgelegte Tankstelle im Prenzlauer Berg ausgesucht, wo statt Benzin nun Bier, Kunst und Partys zu kriegen sind. Die niederländische Technopunk-Band Aux Raus! soll diesen Ort im Rahmen des Sonambiente Klangkunstfestivals in seiner Edward-Hopper-Gemütlichkeit zum Wanken bringen. Stimme, Bass, Synthesizer und Gitarre gelangen über vier Sender zu den Autos. So entsteht ein mobiles Sound-Arrangement, das von den Konzertbesuchern abhängt.

Sasker Scheerder, dessen Arbeiten auf Underground-Festivals genauso zu finden sind wie in internationalen Museen, erzählt davon, wie er einmal einen stampfenden Beat an seinem Haus vorbeiziehen hörte. Er überlegte, wie reizvoll es wohl wäre, wenn sich zwei dieser Wagen kreuzten und die Musik der beiden zufällig zusammenpassen würde. So entstand die Idee zu einem Audio Drive. „Am interessantesten ist es zu sehen, wie überrascht Boomcar-Fans sind, wenn sie gemeinsam einen Sound produzieren.“ Denn obschon eine Szene, die zusammenhält, treffen sich die Audio-Freaks häufig zu Wettkämpfen, bei denen der Lauteste gewinnt.

Auch André und Chris sind im Sommer beinahe jedes Wochenende unterwegs. Als „Team Köpenick“ haben sie etliche Preise gewonnen. Zwei Arten von Wettstreit gibt es: Eine Jury bewertet die klanggetreue Wiedergabe, oder es wird die Lautstärke gemessen. Viele Fans bauen ihre Gefährte für diese „Soundrennen“ aus, verkleinern mit Sperrholzplatten den Innenraum, um höhere Frequenzen zu erreichen. Schönheit tritt in den Hintergrund. Das Auto wird bloßer Resonanzraum. Der Weltrekord liegt bei knapp 180 Dezibel – das fühlt sich fünfmal so laut an wie ein Rockkonzert. Ein Gewehrschuss in Mündungsnähe hat 160 dB.

Chris’ Golf ist ein Kompromiss: Er erreicht beeindruckende 143 Dezibel, was jenseits der Schmerzgrenze liegt, klingt dabei aber hervorragend und sieht schön aus. Besonders der Kofferraum macht was her: Die Subwoofer sind mit rotem Leder verkleidet, die Bassröhren wirken wuchtig und unergründlich tief, und die Endstufen, die in den Kofferraumboden eingelassen sind, leuchten hinter einer blank polierten Scheibe. „Auch wenn ich nicht ans Limit gehen muss: Es ist gut zu wissen, dass mein Auto so laut sein könnte“, sagt Chris, die Verstärker betrachtend, die wie ein zweiter Motor daliegen.

Audio-Drive-Konzert mit Aux Raus! heute Abend 20 Uhr, Schwedter Str. 262, Prenzlauer Berg. Am Samstag findet beim Media Markt Tegel, Am Borsigturm 2, ab 10 Uhr ein dB-Drag-Racing statt.

Daniel Völzke

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false