zum Hauptinhalt

Kultur: Schatzsuche im geheimen Universum

Irre angesagt: Die Galerie Art Cru zeigt Kunst von psychisch Kranken und anderen Außenseitern.

Alexandra von Gersdorff-Bultmann hat mal wieder einen Schatz gehoben. So nennt sie das. Zwei Beutel baumeln schwer von ihren Schultern, als sie ihre Galerie betritt. Darin sind zwei dicke, graue Ordner, sie bersten fast vor lauter bunten Zeichnungen. „Sehen Sie sich das an“, ruft sie begeistert und lüpft die Aktendeckel, kaum dass sie die Tasche abgestellt hat. Schon in den ersten Minuten präsentiert sich die Galeristin mit ihrer ganzen Leidenschaft für ihre Arbeit, für die Kunst, für ihre Galerie Art Cru.

Es ist die einzige Galerie in Berlin, die ausschließlich Outsider-Kunst zeigt. Damit sind Werke von Künstlern gemeint, die geistig behindert oder psychisch krank sind. Sie sind Autodidakten ohne akademische Ausbildung. So wie Michael Golz, von dem Alexandra von Gersdorff-Bultmann gerade wiedergekehrt ist. Er arbeitet in einer Behindertenwerkstatt in Mühlheim an der Ruhr. Seine Werke sollen im Oktober in der Galerie ausgestellt werden.

Tagebücher nennt Golz seine Aktenordner. Zwölf sind es insgesamt, voll mit dichten Zeichnungen, teilweise mit Schrift und eingeteilt in Quadrate wie bei einem Comic. Andere wiederum wimmeln nur so vor Figürchen, chaotisch bunt. Dazwischen finden sich säuberlich gestaltete Landkarten mit Städten, die Fantasienamen aus dem Familien- und Freundeskreis des Künstlers tragen. Er habe ein fotografisches Gedächtnis, sagt die Galeristin, viele Eindrücke des Tages zeichnet er später detailgetreu nach.

Neugierig kommt der Sohn und Mitbetreiber der Galerie dazu, Nikolaj Bultmann. Er sieht die Bilder zum ersten Mal im Original. Behutsam blättern die beiden die zarten Seiten um und sind begeistert. Ein obsessives Werk entfaltet sich vor ihnen, wie es einem oft in der Outsider-Kunst begegnet. Michael Golz hatte bisher erst eine Ausstellung. Als Künstler ist er nicht anerkannt.

Deshalb möchten die beiden Berliner Galeristen ihm, wie auch vielen anderen, ein Bühne geben, Anerkennung. Art Cru wird von einem Verein aus verschiedenen psychosozialen Einrichtungen und Behindertenwerkstätten getragen. Alexandra von Gersdorff-Bultmann engagiert sich ehrenamtlich, Nikolaj Bultmann bekommt eine Aufwandsentschädigung. Es geht nicht um Profit. Und immer um Kunst.

So haben die meisten Künstler ihre Arbeiten nicht im Rahmen einer Therapie geschaffen, sondern aus innerem Drang, sagt die Galeristin. Die Krankheitsgeschichte steht nicht im Vordergrund. Die Kunst muss als Kunst bestehen, in ihrer Intensität, ihren Themen, ihren Farben und Kompositionswillen. In einer der letzten Ausstellungen zeigte Art Cru Arbeiten von Emiehl Päffel und Uwe Paulsen: Der eine schreibt absurde, ironisch-moralische Geschichten über Personen der Weltgeschichte, der andere malt dazu.

Alexandra von Gersdorff-Bultmann gibt jedem ihrer Künstler einen Schutzraum. Und doch ist es immer wieder ein Balanceakt. Schließlich ist das Außenseitertum auch ein Alleinstellungsmerkmal, die Marke der Galerie. Und natürlich wächst die Faszination, wenn man die Geschichte des Menschen dahinter kennt. Wie in der aktuellen Ausstellung von Josef Hofer, einem österreichischen Maler. Er ist 1944 geboren und wurde, weil er geistig und körperlich behindert ist, von den Eltern auf einem Bauernhof verborgen, aus Angst vor dem Euthanasie-Programm der Nazis.

Aber auch 20 Jahre danach hatte er kaum Kontakt zur Außenwelt, Hofer ist gehörlos, er hat weder die Gebärdensprache noch lesen und schreiben gelernt. Sein einziges Ausdrucksmittel sind seine Bilder. Sie zeigen nackte Körper in immer wieder variierenden Rahmen aus einem orange-roten Geflecht, ein Umkreisen von Sexualität, Zerbrechlichkeit, Schutzsuche und Eingesperrtsein.

Hofer ist inzwischen eine Größe in der Outsider-Kunstszene, die immer größer und beachteter wird, fast schon trendy. So zeigt der Hamburger Bahnhof über drei Jahre hinweg in seiner Ausstellungsreihe „Secret Universe“ sechs Künstler, die bisher vom Kunstbetrieb unberührt waren. Zurzeit ist mit dem Amerikaner Morton Bartlett die dritte Ausgabe zu sehen. 2010 hatte bereits die Schirn Kunsthalle in Frankfurt in ihrer Ausstellung „Weltenwandler“ ähnliches präsentiert. Und 2000 wurde der „Euward“ als europaweite Auszeichnung für Malerei und Grafik von behinderten Künstlern ins Leben gerufen, die besten Arbeiten werden immer im Haus der Kunst in München ausgestellt. Einer der Preisträger ist Josef Hofer.

Steckt hinter dieser neuen Beachtung etwa die Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Natürlichkeit in Zeiten eines oft heißlaufenden Kunstmarktes? „Unsere Künstler arbeiten unabhängig, frei von Einflüssen und Verkaufsgründen“, sagt Nikolaj Bultmann. Das gibt es sonst nirgendwo.

Neu ist Außenseiter-Kunst nicht. So leitet sich der Name der Galerie, die sich im Souterrain der Kunsthöfe in der Oranienburger Straße befindet, vom Begriff „Art Brut“ ab, rohe Kunst. Der französische Maler Jean Dubuffet hat ihn nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Und bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ließen sich Paul Klee, Max Ernst, Emil Nolde oder auch Ernst Ludwig Kirchner von „Irrenkunst“, wie man sie damals noch bezeichnete, inspirieren. Eine „Eruption des Unbewussten“ sah Hans Prinzhorn in ihr. Der Kunsthistoriker und Mediziner wurde 1919 von der Universitätsklinik in Heidelberg beauftragt, eine Kollektion künstlerischer Arbeiten von Psychiatriepatienten zu erstellen. Die Sammlung ist heute die weltweit bedeutendste ihrer Art.

Die Galerie in Mitte engagiert sich immer wieder in internationalen Projekten. So besuchten einige Berliner Künstler kürzlich einen Workshop in der Tate Gallery of Modern Art in London. Und immer wieder kommen Künstler der UdK mit Künstlern der Galerie im Atelier zusammen und stellen die dort entstandenen Werke gemeinsam aus – ohne kenntlich zu machen, wer aus welchem Lager kommt.

Mutter und Sohn leisten viel Überzeugungsarbeit in Behindertenwerkstätten. Denn dort ist bisher oft nur wenig Platz für Kunst. Sie müssen sich refinanzieren und setzen auf Produkte, die man auch sicher verkaufen kann. „Da muss ein Umdenken passieren“, fordert Alexandra von Gersdorff-Bultmann. Sie wünscht sich freie Ateliers in den Werkstätten. Sie sagt: „Die Gesellschaft sollte sich das leisten.“

Galerie Art Cru, Oranienburger Straße 27, Di-Sa 12-18 Uhr. Ausstellung von Josef Hofer bis 8. Juli, Eröffnung der Schau von Frank Jacobowsky und Betty Feix am 31. Juli, 19 Uhr. Mehr unter www.art-cru.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false