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Kultur: Schiefgewickelt

Rückzug auf Japanisch: Milena Michiko Flasars Hikikomori-Roman „Ich nannte ihn Krawatte“.

Mitten in den Zentren der kapitalistischen Gesellschaft entstehen auch neue Formen der Einsamkeit und des Eskapismus: Hikikomori nennt man in Japan jene meist jungen Menschen, die aus allen haltgebenden und zugleich disziplinierenden Systemen herausfallen. Hikikomori ziehen sich manchmal über Jahre in sich selber zurück, weil sie dem gesellschaftlichen Druck ihren Körper nicht mehr entgegenstemmen können. Sich aus dem „Zusammenspiel von Ursache und Wirkung“ befreien, das ist der innigste Wunsch des Hikikomori. Er möchte sich nicht mehr in ein Beziehungsgeflecht hineinbegeben, aus dem er nicht mehr heil herausfindet. In Milena Michiko Flasars Roman „Ich nannte ihn Krawatte“ haben diverse Erschütterungen zum Rückzug des Ich-Erzählers Taguchi Hiro geführt: der Selbstmord einer Jugendfreundin, der Verlust eines Freundes. „Jemandem zu begegnen bedeutet, sich zu verwickeln. Es wird ein unsichtbarer Faden geknüpft. Von Mensch zu Mensch. Lauter Fäden. Kreuz und quer. Jemandem zu begegnen bedeutet, Teil seines Gewebes zu werden, und dies galt es zu vermeiden.“

Taguchi Hiro vergräbt sich in sein Kinderzimmer. Bei einem seiner Ausflüge in die Welt begegnet er einem anderen Ausgestoßenen, einem „Salaryman“ mit Anzug und Krawatte. Dessen Rückzug aber ist nicht ganz freiwillig; die Arbeitswelt hat keine Verwendung mehr für ihn. Es sind zwei Melancholiker, die sich hier einander zuwenden. Indem sie das tun, fassen sie Vertrauen, nicht nur zueinander, sondern überhaupt in die verloren gegangene Fähigkeit, ihre Ängste und Träume mitzuteilen. Die Flucht aus den Zusammenhängen lässt so einen neuen entstehen. Plötzlich eröffnen sich für sie neue Wirklichkeits- und Erinnerungsräume.

Milena Michiko Flasar, Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, will natürlich mehr als nur eine Begegnung von zwei in der modernen urbanen Welt abhandengekommenen Gestalten schildern. Der Hikikomori ist für sie eine Metapher für die Entfremdung zwischen dem, was wir zu sein uns wünschen, und der Wirklichkeit. Es ist eine Geschichte über Illusionen, die sich in eine Krankheit verwandeln können und denen in einer desillusionierenden Gesellschaft keine Gerechtigkeit widerfährt. Was Alexander Kluge den „Antirealismus des Gefühls“ nennt – nicht einverstanden zu sein mit einer Wirklichkeit, die einen ignoriert –, beherrscht auch diese Figuren. Flasar löst diese Problematik in einer psychologisierenden, zuweilen sentimentalen, von Lyrizismen nicht freien Sprache auf. Ihre Helden werden zu Trägern existenzieller Sinnfragen, die sie belasten. Aber sie fallen nicht, schweben vielmehr durch diesen ambitionierten Roman. Das Ende ist im Übrigen ebenso versöhnlich wie rührend. Auch ein Hikikomori findet früher oder später ins Leben zurück, wenn er an jemanden gerät, der ihm sein Ohr und seine Seelengüte leiht. Ulrich Rüdenauer

Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte. Roman. Wagenbach Verlag. Berlin 2012. 144 Seiten, 16,90 €.

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