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Kultur: Schleefs Erben

Vier Tage bei „100 Grad“: Im Berliner HAU feiert die freie Theaterszene ein Fest

„Sind viele Dinge in der Welt / nicht zum Besten gestellt“, insistiert der Sprechchor aus über 20 Dresdner Bürgerinnen und Bürgern. Und erzählt: von der Alltagsroutine, vom Kranksein, vom Essen, von politischen Kämpfen. Manchmal ballt sich der Chor zum Knubbel, dann sieht es aus, als hätten Rodins „Bürger von Calais“ zu sprechen begonnen. Manchmal teilt er sich in Männer und Frauen, dann diskutieren zwei Chöre miteinander. Einmal schluchzen die Frauen wie antike Klageweiber, und ob der Exotik dieser Laute merkt man plötzlich, dass in unserer Gesellschaft das lauthals vorgetragene, gemeinsame Trauern keinen Ort hat: Selbst auf Beerdigungen versucht jeder, seine Tränen zu überspielen, und wo doch einmal gemeinsam geweint wird, tut man es als Pubertätssyndrom ab – etwa wenn Teenager eine sich verabschiedende Band beklagen.

Überhaupt bietet der Chor als Chor natürlich immer wieder die Möglichkeit, vermeintlich individuelle Probleme als strukturelle sagbar zu machen. „Das Schattenkabinett“ heißt diese faszinierende Arbeit, die Bernd Freytag – einst Chorführer bei Einar Schleef – geleitet hat und die am Freitag beim diesjährigen 100-Grad-Festival zu sehen war, dem großen Berliner Treffen der freien Theaterszene.

Derart schlüssigen Produktionen konnte man freilich nicht allzu oft begegnen in den vier Tagen, in denen die Sophiensäle, der Theaterdiscounter und die drei Häuser des HAU nonstop und gleichzeitig bespielt wurden. Doch das liegt bei über 200 freien Projekten wohl in der Natur der Sache (das wichtigste Einladungskriterium übrigens war die Spieldauer von maximal einer Stunde). Und vielleicht macht es ja auch gerade den Reiz dieses von Tamina Theiss, Carolin Kiel, Claudia Leutemann und Georg Scharegg hervorragend organisierten Marathons aus, dass man unter vielen schwächeren Aufführungen immer wieder von plötzlichen Höhepunkten überrumpelt wurde.

Auffällig sei die Nähe vieler Produktionen zu gängigen Fernsehformaten, so Kathrin Tiedemann, Leiterin des Düsseldorfer Forums Freies Theater und Festivalbeobachterin. Dabei scheint das Best-of der Theater-Sitcom „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“, die das Prime Time Theater seit drei Jahren zeigt, durchaus Witz gehabt zu haben, während die Langweiler-Performance „Was gibt’s neues Pussy“ (bei der Marcus Reinhardt und Robert Schupp nie dazu kommen, ihren Lieblingsfilm nachzuerzählen), im peinlichen Trash versank und meilenweit hinter dem offensichtlichen Vorbild Harald Schmidt zurückblieb. Gelungen hingegen die „Baustelle Luftschloss“. Drei Performer improvisieren anhand von Plastikspielzeug über die eigentümlichen, so eleganten wie grobschlächtigen Bewegungsabläufe einer beliebten Männerfantasie: den Bagger.

Man mag spekulieren, ob es mit dieser affirmativen Reflexion des Mediums Fernsehen zu tun hat – jedenfalls scheint vielen freien Theatermachern im Moment das zu fehlen, was beispielsweise Einar Schleefs legendäre Chorarbeit ausmachte: das Bewusstsein dafür, dass Sprache auf der Bühne in politischen und philosophischen Dimensionen erfahrbar werden kann und viel mehr ist als bloß ein Alltagsinstrument. Dieser Mangel kennzeichnete auch die Stücke, die sich mit den Kunstsprachen Schillers und Goethes auseinanderzusetzen versuchten und in hilflosen Einfühlungsversuchen oder im Veralbern stecken blieben. Die rühmliche Ausnahme stellte hier Johannes Schmits grandiose Miniinszenierung von Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee IV“ dar, in der es um die Politik von Regel und Regelverstoß geht: Der Staat braucht Feinde, sonst ist er überflüssig, und da alle Systeme zu funktionieren scheinen, befiehlt ein Stasioffizier seinem Untergebenen, einen Regelverstoß zu begehen. Anschließend verwächst er mit seinem Schreibtisch zu einer Abart des Kentauren: zum Amtsschimmel.

Schmits Inszenierung biegt all diese Fragen zurück auf die schwierige Müller- Sprache: Wie ein Souverän kämpft der Schauspieler Stefan Stern mit den Blankversen, die immer wieder Pausen und Unterbrechungen einfordern. Zum Ende hin wird sein Sprechen immer schneller, der Schauspieler verschmilzt mit der Sprache wie eben der Funktionär mit dem Schreibtisch. Andere Höhepunkte waren die clowneske Pantomime „Tristan“ von Max Merker und vor allem die Show des „Daumenkinofotografen“ Volker Gerling, die ihren Reiz aus dem Pendeln zwischen Foto und Film bezieht und sich in berührender Weise dem Thema der Vergänglichkeit nähert.

„Nicht jede Raupe wird ein Schmetterling“, resümierte der ebenfalls als Festivalbeobachter eingesetzte Tom Stromberg mit beträchtlicher Eitelkeit. Mag sein. Aber ganz sicher war jeder Schmetterling einmal eine Raupe.

Sebastian Kirsch

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