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Kultur: Schleier des Seins

Durchblicker: Der Fotograf Thomas Florschuetz schaut hinter die Oberflächen der Welt

Die Fenster in Thomas Florschuetz’ Atelier in der Kollwitzstraße sind drei Meter hoch. Riesige Rahmen lehnen an den Wänden: Blicke auf Körperteile, auf Blüten, Fenster und Fassaden. Schnittstellen, Übergänge zwischen Außen und Innen, zwischen der Oberfläche und einem unendlichen Assoziationsraum dahinter.

Florschuetz ist ein freundlicher, unauffälliger Mann. Er ist 1957 in Zwickau geboren, 1988 zog er aus Ostberlin in den Westen. Heute lebt er wieder im Prenzlauer Berg, wie vor der Wende, als er mit fragmentierten, verzerrenden Körper- und Porträtstudien erste internationale Anerkennung fand. Seine Bildkunst war ein Regelverstoß, sagt er, gegen das in der DDR herrschende Verständnis von Fotografie als dienender, illustrativer Technik. Heute ist Florschuetz einer der renommiertesten deutschen Fotokünstler. Im vergangenen Jahr war seine Retrospektive „Are you talking to me? Sprichst Du mit mir?“ im Kunst Museum Bonn, im Baltic Center for Contemporary Art im englischen Gateshead und in den Kunstsammlungen Chemnitz zu sehen.

Nun zeigt das Haus am Waldsee unter dem Titel „Blick ins Freie“ eine aktualisierte Version dieser Schau, erweitert um mehrere bisher nie ausgestellte Arbeiten. Eine davon ist die Komposition „fallweise“: sechs große Abzüge, auf jedem ein Handgelenk, eine sanft geschlossene Faust, ein Stück vom Unterarm. Die Haut ist hell, fast weiß. Florschuetz’ eigene Haut. Sie wirkt dünn, verletzlich, Adern scheinen durch. Man ahnt den Puls.

Schon die seit 1993 entstandene „Plexus“-Reihe thematisiert die Hände des Künstlers: seine aneinander gelegten Finger, von einer starken Lampe durchleuchtet. Blutrote Lichtlinien geben den Schemen eine Struktur. Noch deutlicher als in „fallweise“ wird die Haut als durchlässige, gerade als lichtdurchlässige Membran sichtbar.

Florschuetz hat sich in seinem Werk intensiv mit dem eigenen Körper, auch mit Füßen und Armbeugen, beschäftigt, ohne sich zu porträtieren. Der Fotograf rückt sich als physisches Ereignis ins Bild, in seine Bilder, die so als Selbstreflektion der Möglichkeiten visueller und fotografischer Wahrnehmung ebenso lesbar werden wie als existentielle Selbstvergewisserungen. Der Körper wird, in all seiner individuellen Intimität, beispielhaft: ein Leben, so bedeutsam und kostbar wie andere, wie meins.

So suchen die Bilder nach der Heideggerschen „Dingheit des Dinges“, nach dem „Körper an sich“, wie Florschuetz sagt, in seinem sächsischen Dialekt, weich, leise. Die Transparenz ist für ihn „die Möglichkeit, Dinge, die dahinter liegen, im Unklaren zu lassen“. Und damit den Betrachter zur Kontemplation einzuladen, zum Durchdringen und Überwinden der Oberfläche auf der Suche nach dem, was Mark Gisbourne im Ausstellungskatalog mit Deleuze als „reine Immanenz“ bezeichnet.

Auch Arbeiten aus anderen Schaffensphasen stellen diese Beziehung her. So sind Florschuetz’ prächtige, ebenfalls ausgestellte „Blumenstücke“ sowie seine „Ricochet“-Fotos zunächst als klassiches Vanitas-Motiv lesbar, ein Aspekt, der auch in „fallweise“ mitschwingt. Aber die Blütenblätter sind auch die transluziden Membranen, deren Verlockung der Künstler immer wieder erliegt.

Hiervon zeugen auch die Fotos der Vorhänge der Villa Aurora in Pacific Palisades, Kalifornien, wo Florschuetz 2000 als artist in residence wohnte. In blickdichte Falten geworfen oder als grauer Schleier, der im Blick durch das Fenster andere Fenster nur unzureichend verhüllt, thematisieren diese Bilder den „Blick auf den Blick“. Der ist Florschuetz wichtig. Bereits in der Serie „Multiple Entries“, in der er die Fenster seines alten Kreuzberger Ateliers sich gegenseitig spiegeln lässt, erforscht er diese Rahmen zur Welt, die nie das Wahre, das Ganze fassen können. „Den Blick ins Freie gibt es immer nur als Blick auf das Fenster“, sagt Florschuetz. Und das Freie ist nur, was das Fenster zeigt. So bezieht sich auch der Ausstellungstitel nicht nur auf die Zehlendorfer Waldsee-Idylle, sondern fordert auch ein Sich- Befreien von festen Seherwartungen.

Man könnte den Mann mit der Kamera für einen scheuen, philosophischen Forschertyp halten. Doch Florschuetz hat sich im Laufe seiner Karriere zur Welt hin geöffnet. Seine „enclosures“ sind Architekturstudien aus Rio de Janeiro. Die Bilder von Schulbauten des Architekten Oscar Niemeyer erinnern in ihrer Strenge an die „Plexus“-Serie. Der fragmentierte Blick auf den Stadtraum ist letztlich der gleiche wie der auf den eigenen Körper. Anfang 2005 war Florschuetz in Sao Paulo, er zeigt sein Material, stapelweise Hochhäuser, Fensterfronten. Urbane Ausschnitte, architektonische Oberflächen als Epidermis, als Raster, hinter dem sich Existenz verbirgt.

Diese neuesten Arbeiten werden nicht in der Ausstellung zu sehen sein, „das war zu kurzfristig“. Dafür wird es mit „Augenstücke 01“ eine Videoinstallation geben, die erste, die er vor fünf Jahren gemacht hat. Auf drei Monitoren schaut der Betrachter den Künstleraugen beim Sehen zu: Der Blick ist ein Wahrnehmungsinstrument. Aber der Blick geht niemals tief genug.

„Blick ins Freie“ vom 29. April bis 31. Juli. Haus am Waldsee (Argentinische Allee 30, Zehlendorf), So–Do 10–18, Fr u. Sa 12–20 Uhr.

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