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Kultur: Schlesien liegt in Asien

Thomas Ostermeier inszeniert in München Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“

Nachdem Alfred Loth sich im Hause Hoffmann zum Frühstück ein Glas Milch bestellt hat, wie es bei Gerhart Hauptmann 1889 im Text seines dramatischen Erstlings „Vor Sonnenaufgang“ ausdrücklich verlangt wird, dreht er sich eine Zigarette. Loth raucht in den Münchner Kammerspielen American Spirit. Das mag unter gesundheitlichen Aspekten gesehen bedenklich erscheinen, wirkt jedoch politisch korrekt: American Spirit nimmt für sich in Anspruch, Tabak nicht sauber, aber rein zu produzieren. Und eigentlich verhält es sich auf der Ebene der charakterlichen Selbsteinschätzung des Alfred Loth (Stephan Bissmeier) genau so. Was innen schwarz sein mag, wird äußerlich und rhetorisch weiß gedeckt: Der Sozialreformer Loth will in Hauptmanns Schlesien den „Kampf um das Glück aller“ vor allem für die Armen aufnehmen. Wenn es dann aber am Schluss ernsthaft darum geht, für die in ihn verliebte Helene die Kohlen aus dem Feuer zu holen, verzieht sich Alfred Loth auf andere Problemfelder – wie man heute sagen würde.

Dies nun wäre der Moment (und ist es bei Hauptmann auch), wo die statische Tragik der Vorlage noch einmal aufbricht: Helene müsste sich erstechen. Der Berliner Schaubühnenchef Thomas Ostermeier allerdings lässt die Schauspielerin Julia Jentsch lediglich mit schön gespielter, mürber Müdigkeit an die Brust ihres wie immer besoffenen Vaters Krause sinken. Bei Hauptmann ist Krause ein durch Kohlefunde aufgestiegener Bauer, der den eigenen Töchtern nachstellt. Bei Ostermeier ist er ein verkommenes Tier, das sich gewohnheitsmäßig auf Helene wirft. Man sieht (und staunt): Aus Hauptmanns Schlesien ist Asien geworden; das Personal spricht teilweise Pidgin-English bei Ostermeier. Seltsam genug. Aber: Es funktioniert.

Anstatt Hauptmann auf alten Schollen zu suchen, setzt Ostermeier die Neureichen unter Palmen aus: Zikaden zirpen, die Brandung rauscht, und der sparkling wine ist stets zur Hand. So erscheint es nicht absurd, wenn Frau Krause (brillant versnobt: Hildegard Schmahl) Alfred Loth auffordert, sich beim Barbecue mit Meerestieren zu bedienen; schon bei Hauptmann gibt es Hummer. Der Text – mitunter leicht kolloquial der Neuzeit angepasst – hat größtenteils nichts von seiner Wirkung verloren. Es ist immer noch Schmerzenspoesie, „gesänftigte Innigkeit“, wie Alfred Kerr so schön fand. Das Ganze fast im Boulevardton, ja manchmal als kleine, dunkel grundierte Komödie in München. Ostermeier wäre nun aber nicht Ostermeier, gäbe es nicht ein paar Effekte, dank derer sich die dialogische Atemlosigkeit des Stückes ausruhen können. Die Begrüßungsszene für den ungebetenen Hausgast Loth gipfelt während des Grillens in einer Karaokenummer, die der Krause’sche Schwiegersohn Hoffmann persönlich inszeniert. Michael Nebelschwaden gibt den corpore. Es bleibt einer der wenigen Momente, in denen dieser Ausbeuter, der gänzlich aus Fassade zu bestehen scheint, gewissermaßen aus sich heraus geht. Entsprechend peinlich ist ihm der Auftritt hernach.

Ostermeier hat für die Kammerspiele in der Umbauphase einen Fleißer-Abend inszeniert, der vor allem davon lebte, dass Deep Purple gespielt wurde. Es gab viel „Child in time“, aber ein bisschen kindisch war das Ganze schon. Nie fand die Regie für „Der starke Stamm“ zu einem richtigen Rhythmus. Das ist nun anders. Vor allem die Nachtszenen, die bei Ostermeier in einem kargen buddhistischen Tempelraum spielen, sind von überzeugendem Timing. Wie Opfertiere und Schlächter zugleich huschen hier die Menschen aneinander vorbei. Blitzartig werden sie beleuchtet. Dann verschwinden sie wieder. Jeder hat ein Geheimnis zu verbergen. Ostermeier zeigt die Kämpfe nur ansatzweise. Er ist kein Voyeur. Er teilt das Leid mit, manchmal mitleidlos.

Wie die Verhältnisse wirklich sind in der Näharbeit der Krauses, davon erzählt ein Spot, der nach der Pause auf den Vorhang der Kammerspiele projiziert wird: Vier Toiletten für 600 Frauen bei der Arbeit, jede darf zweimal in zehn Stunden müssen. Später hängt das Adidas-Hemd beim Sport-Scheck. Es ist rot und hat einen weißen Stehkragen, der Verein verdient Millionen damit, aber man muss auch nicht alles wissen wollen. Ostermeier meint das gar nicht groß belehrend. Aber gesagt haben will er es schon. Natürlich sagt er dies alles, wie Hauptmann, denen, die es eh schon wissen müssten. Aber es kann einem bei dieser überraschend dringlichen Version von „Vor Sonnenaufgang“ dann doch noch einmal so manches Licht aufgehen. Bevor es dunkel wird.

Wieder am 6., 16. und 23. Juni.

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