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Kultur: Schlitze kosten doppelt

Die Londoner Auktionen offenbaren die seltsame Preiskluft zwischen alter und zeitgenössischer Kunst.

Alexander Bell, Altmeisterexperte von Sotheby’s, war nach der recht gelungenen Abendauktion fast sentimental. So ein spirituelles Bild wie den eben für 9,2 Millionen Pfund (10,8 Millionen Euro) versteigerten „Heiligen Dominikus“ von El Greco in einer Auktion zu haben, sei eine besondere Ehre. Umso größer die Genugtuung, dass auch der Markt das Bild gewürdigt habe. Womit Bell andeutete, dass Kunstkäufer mit ihren Millionen nicht immer die gleichen Werturteile fällen wie Kenner, Kunstgeschichtler, Museumsleute oder sogar Auktionsspezialisten.

Im Gegenteil. Die Kluft zwischen der ökonomischen Bewertung der Kunst durch den Markt der Sammler und Käufer und ihrer kulturellen Bewertung durch Geschichtsbücher, Kulturliebhaber und Museumskuratoren ist vielleicht so groß wie nie. El Grecos Gemälde war auf nur drei bis fünf Millionen Pfund geschätzt, entsprechend seinem bisherigen Auktionshöchstpreis von 3,8 Millionen Pfund für eine Kreuzigungsszene vor 13 Jahren. Ein, wie mancher denken würde, lächerlicher Preis für diesen bahnbrechenden kretischen Ikonenmaler aus dem 16. Jahrhundert, dessen fromme, aber farblich expressive Malerei als eine der künstlerischen Brücken zwischen dem byzantinischen Osten und der Westkunst, dem Manierismus der Renaissance und der Moderne gilt. Museen in aller Welt sehnen sich nach einem solchen Bild, haben aber nicht das Geld.

Am Ende waren es 9,2 Millionen Pfund für El Greco und 5,4 Millionen Pfund, die ein Franzose für Claude-Joseph Vernets im Abendrot leuchtendes Panorama der Stadt Avignon bezahlte. Für das Toplos von Christie’s, eine superbe Venedigansicht von Canaletto, gab es 8,4 Millionen Pfund – das waren die Erfolgspreise der Altmeisterauktionen. Aber so hoch sie auch scheinen, zeigen sie doch vor allem, wie die teuersten Werke der alten Kunst im Preis den Zeitgenossen hinterherhinken. Sammler bezahlten in den Contemporary-Auktionen solche Millionenpreise fast routinemäßig, für ein mittelgroßes, monochromes Bild mit sieben schnell mit dem Kartonmesser gesetzten Schlitzen von Lucio Fontana oder eine acht Meter hohe, tonnenschwere Skulptur aus unbehandeltem Stahl von Eduardo Chillida. Und ebenso für eine abstrakte, morphische Linienzeichnung des an Alzheimer erkrankten Willen de Kooning aus den achtziger Jahren. Gar nicht zu reden vom Spitzenpreis der Londoner Sommerauktionen, dem großen Kritzelgemälde des Graffitimalers Jean-Michel Basquiat. Für die 18,7 Millionen Pfund, die dieses Bild kostete, hätte man in London ein ganzes kleines Altmeistermuseum erwerben können.

Oder eben zwei Gemälde von El Greco. Denn es gab noch ein zweites Werk von ihm in der Sotheby’s-Auktion: eine große Kreuzigung, die aus einem spanischen Privatmuseum abgezogen wurde und 3,4 Millionen Pfund einbrachte. Sie war vom Format etwas größer und damit letztlich preiswerter als das bisherige Rekordbild von 2000. Der neue Preis für El Greco zeigt also keineswegs, dass der Maler teurer wird, jedenfalls nicht seine Kreuzigungen. Und wären in den letzten zehn Jahren nicht reiche Russen mit ihren Rubeln und Dollars zu bedeutenden Kunstinvestoren geworden – wer weiß, ob diese El Grecos sich überhaupt verkauft hätten. Beide gingen nämlich an russische Bieter, die in ihm den alten Ikonenmaler und die ostkirchlichen Traditionen sehen. Ein weiterer Unterbieter, berichtete Sotheby’s, kam aus Südostasien.

Was die Altmeister angeht, sah es diese Woche überhaupt so aus, als würden die neuen Bieter aus Asien die alte europäische Kunst vor dem weiteren Preisverfall bewahren. Denn in Europa kehren ihr viele den Rücken, auch und gerade deutsche Sammler, weil sie aus der Mode gekommen ist. Was hätte man in den Altmeister-Auktionen beispielsweise für den Preis jener mittelgroßen Abstraktion (120 x 80 cm) von Gerhard Richter haben können, die während der Contemporary-Auktion von Sotheby’s mit dem Routinematerial Ende Juni als Toppreis 1,6 Millionen Pfund kostete? Bei Christie’s beispielsweise eine Kreuzigung von Lucas Cranach (1,1 Millionen Pfund), einen vom Handel begehrten Pieter Brueghel (1 Million Pfund). Man hätte das Porträt eines bärtigen Mannes von keinem Geringeren als Tizian haben können, das ein indischer Käufer für 781 975 Pfund ersteigerte, und hätte noch genug Geld für ein exzellentes Blumenstillleben von Ambrosius Bosschaert gehabt, einem der Väter der holländischen Blumenmalerei des 17. Jahrhunderts, das 721 875 Pfund kostete.

Aber mehr Menschen in der Welt mit Geld wollen heute eben eine Abstraktion von Gerhard Richter als ein Blumenstillleben von Bosschaert. „Je zeitgenössischer die Kunst, desto unwichtiger wird, welche Nation der Künstler hat“, erläuterte Christie’s-Auktionator Juss Pylkkänen. Richters Kunst ist eine anerkannte internationale Währung. Das schöne Gemälde von Aprikosen eines der großen spanischen Stilllebenmalers des 18. Jahrhunderts, Luis Meléndez, war bei Sotheby’s mit ein bis 1,5 Millionen Pfund auf monetärer Augenhöhe mit dem Richter-Los taxiert, fand auf diesem Preisniveau aber keinen Käufer. Spanier, die den Markt von Meléndez bestimmen, haben in der Wirtschaftskrise andere Sorgen ...

Ein Kunstwerk hat einen absoluten Wert allenfalls in der Hierarchie der Kunstgeschichte – und auch sie kennt Moden. Eine beispielhafte Lektion vor allem für Sammler zeitgenössischer Kunst ist das Bild „Die Auffindung des Mose“ von Sir Lawrence Alma-Tadema. Als der Maler es 1904 für den Ingenieur Sir John Aird malte, kostete es mit 5250 eine damals riesige Summe. Alma-Tadema war der Gerhard Richter seiner Zeit. Doch dann sank der Preis von Verkauf zu Verkauf. 1960 konnte es die Londoner Kunsthandlung Newman gar nicht mehr loswerden. In Auktionen ging es zurück, Museen wollten es nicht geschenkt haben. Schließlich erbarmte sich ein Kunde, der nur den Rahmen wollte und die Leinwand auf dem Bürgersteig liegen ließ. Kein britisches Museum wollte das Bild auch nur geschenkt. Und doch – im November 2010 wurde es schließlich in New York für einen Ausreißerpreis von 36 Millionen Dollar versteigert – arabisches Geld und arabischer Geschmack kamen zu Hilfe.

Während die Moderne und erst recht die Contemporary Art mit gutem Materialfluss und globalen Moden den wachsenden Kunsthunger der Welt befriedigt, werden die Auktionen im Altmeisterbereich von Jahr zu Jahr dünner – und der Markt unberechenbarer. Der Kunstmarkt ist eine Angebotsökonomie. Die Nachfrage wird von dem guten Angebot stimuliert. Seltene, fast nie käuflich erhältliche Alte Meister werden nicht, wie man denken könnte, wegen Knappheit teurer. Weil weniger angeboten wird, gibt es weniger Sammler, die sich für sie interessieren. Alte Kunst ist nicht mehr Teil übergreifender Moden und Geschmackstrends, an denen sich Sammler orientieren und von denen das Preisniveau gesteuert und definiert wird.

Warum fand sich für den Flop der Woche kein Käufer, das große Bild von Jan Steen, das Christie’s wegen seiner Seltenheit und Bedeutung auf sieben bis zehn Millionen Pfund gesetzt hatte? Im Auktionshaus bestreitet man entschieden, dass die Schätzung zu hoch gewesen sei. Das Rijksmuseum habe vor zehn Jahren viel mehr für ein gleich großes Bild des eigentlich als Kabinett- und Feinmaler beliebten Malers bezahlt. Aber wenn ein Werk so selten auf dem Markt ist, verliert dieses Argument an Kraft. Wie viele Interessenten gibt es noch, wo das Rijksmuseum seinen großen Steen nun hat?

Da ist die Preisfindung für ein Fontana-Schlitzconcetto einfacher. Auktionatoren können den Preis aus einer Tabelle ablesen, in der Größe, Zahl der Schlitze und die Farbe preisstiftende Faktoren sind. Rot ist am teuersten und beliebtesten. Wenigstens das ist eine bleibende, von jeder Mode unabhängige Größe.

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