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Kultur: Schluss mit dem Parkplatz-Realismus

Jung, empfindsam, sehnsüchtig? Nach zwölf Jahren klingt die deutsche Erfolgsband Tocotronic erwachsen – und ziemlich verrätselt

Bald zwölf Jahre gibt es die deutsche Band Tocotronic nun schon, im Februar erschien ihre siebte Platte „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Am Dienstag findet in Berlin das Abschlusskonzert ihrer Tournee statt. Tocotronic war bisher immer ein Trio, bestehend aus dem Sänger, Gitarristen und Texter Dirk von Lowtzow, dem Bassisten Jan Müller und Arne Zank am Schlagzeug. Erst seit diesem Jahr gehört der Gitarrist und Keyboarder Rick McPhail dazu, was aber nicht, wie man hätte fürchten können, zu einem noch breiteren, psychedelischen Klang geführt hat. Im Gegenteil. Tocotronic klingen asketischer denn je. Es gibt kaum Synthesizer und keine Streichquartette. Sie klingen fast wie früher, bloß die Texte haben sich verändert.

In den ersten Jahren haben Tocotronic sich durch Westdeutschland, seine Imbissbuden, Einkaufszentren und die „komischen Passagen, durch die niemand mehr flaniert“ gesungen und „den schönsten Tag in ihrem Leben“, einen Donnerstag, auf einem „Parkplatz vor dem Supermarkt“ verbracht. Tocotronic haben ein Bild gemalt vom Leben am Wochenende („Samstag ist Selbstmord“), von der Diskothek mit Weizenbier und Independent-Tag und haben kleine Geschichten aus der Alltäglichkeit erzählt, in einer bezaubernden, poetischen, melancholischen Nahsicht auf die Dinge. Da ging es beispielsweise um „Meine Freundin und ihr(en)Freund“, die meinten, sie müssten „mir was sagen“. Oder um die Gefühle „am letzten Sommerferientag“. Tocotronic lieferten die Begleitmusik zum Profanen, die Musik zu Teppichböden und Schrebergärten, den Kommentar zu dieser „langweiligsten Landschaft der Welt“, die trotz allem gefällt.

Aufgabe einer Rockband sei es, „Songs in überschaubarer Länge zu erstellen“, sagt Jan Müller, der Bassist. Die Musik von Tocotronic, das sind drei Minuten, manchmal kürzer, manchmal länger dauernde Geschichten, die meist mit „Ich“, seltener mit „Du“ anfangen. Kleine Gefühlskonserven voller Empfindlichkeit. Voll von Ich, Ich, Ich. „Ich glaube, ich hab meine Unschuld verloren“, „Ich habe 23 Jahre mit mir verbracht“, „Ich mag Dich einfach nicht mehr so“, „Ich bin neu in der Hamburger Schule“, „Ich bin ganz sicher schon mal hier gewesen“, „Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen“ oder „Ich habe Stimmen gehört“. Das lyrische Ich all dieser Lieder verrät, was es sieht, erlebt, hasst oder was ihm fehlt. Für die drei oder vier Minuten kann jeder, der will, sich leicht einbilden, selbst dieses Ich zu sein und solche Gefühle zu haben. Die Lieder sind die Gebrauchsaneisung für diese Gefühle.

Neben den vielen Ich-Ich-Ich-Liedern gibt es die Lieder, die das lyrische Tocotronic-Ich einer anderen Person hinterhersingt. „Du warst das erste Mal bei mir/ ich hatte immer noch keine Sitzgelegenheit“ heißt es in „Vier Geschichten von dir“. Das Du ist das Mädchen, die Geliebte, die Freundin, der Freund. Man weiß es nie so genau, aber darin liegt auch der Reiz. Es gibt das Du, dem das singende Ich in „Für immer mein Feind“ nach langer Zeit wiederbegegnet, das sich dann aber zu einem Schaufenster dreht und auf den Gruß nicht reagiert. Hin und wieder gibt es auch ein Du, das man sich wie einen älteren Lehrmeister oder eine Lehrmeisterin vorstellen könnte, der ein Vers wie „Ich denke an das, was du empfiehlst“ oder einer wie „Ich mag das Licht, das du mir bringst“ gilt. Mit wem der Sänger da eigentlich spricht? Mit uns allen. Daher seine Wirkung. Jeder denkt, er sei gemeint.

In den früheren Liedern, unter schwerem Einfluss von Thomas Bernhard, kultivierten Tocotronic einen spätjugendlichen Hass, vollendet ausgeprägt in dem Lied „Freiburg“ von dem Album „Digital ist besser“. „Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse/ Fahrradfahrer dieser Stadt“ heißt es da, und in den nächsten Strophen folgen auf die Fahrradfahrer die Backgammonspieler und die Tanztheater. „Ich bin alleine und ich weiß es/ und ich find es sogar cool“ stilisiert sich der Erzähler in dieses Stimmungsbild aus der glücklichen Provinz. Und all die, die eine Kleinstadt verlassen haben oder noch immer an ihr leiden, erkennen sich wieder. Damals wie heute faszinierte die Attitüde, der Zorn der jungen Männer, die zu dieser Verfluchung herrlichen Krach machten. Diese Haltung findet sich schon im Titel des Albums „Wir kommen, um uns zu beschweren“. Im gleichnamigen ersten Lied ist der Zorn allerdings schon verraucht, es bleibt die eher melancholische Klage, „manche Leute melden sich/ am Telefon oft unfreundlich“. Und das wird in einem so verzweifelten, fast jammernden Tonfall vorgetragen – es ist schon wieder lustig. Und außerdem ist eine Beschwerde nicht eine bürokratische, den Dienstweg strikt einhaltende Maßnahme? Also alles andere als ein Protest? Vielleicht wollen Tocotronic uns mit dieser Klage über die am Telefon oft unfreundlichen Menschen nur mitteilen, wie wenig sie mit Protestmusik zu tun haben. Gar nichts nämlich.

Hört man die sieben Platten hintereinander, hört man der Band beim Älterwerden zu. Und ein bisschen auch sich selbst. „Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht“ heißt ein frühes Stück. Und heut erinnert man sich selbst gern daran, wie furchtbar alt man sich mit 23 Jahren gefühlt hat. Tocotronic haben damals gesungen, „Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht und (bin) zu alt, um ewig jung zu bleiben“. „Ich bin zu jung, meine Biografie zu schreiben.“ Kleine Splitter einer Biografie haben Tocotronic dann aber doch immer geliefert. Ihre Lieder verrieten, welche Bücher sie gerade lasen. Es war zu hören, als Thomas Bernhard auf dem Kopfkissen lag und wann Marcel Proust an der Reihe war, der dann gleich Pate stand für den Titel eines Albums, das „Nach der verlorenen Zeit“ benannt wurde. Und auch das Lied „Jetzt geht wieder alles von vorne los“, nutzt die Wendung „nach der verlorenen Zeit“ als unbestimmte Zeitangabe. „Nach der verlorenen Zeit/ hab ich erst mal mehr Zeit mit mir verbracht/ man verpasst ja doch nichts, wenn man nicht früh aufsteht.“

Wenn es einer sein sollte, wäre das ein Vorwurf, den man diesen Texten machen könnte: dass man hier und da zu leicht heraushört, was da gerade entdeckt worden ist. Mancher Vers hat etwas Prätentiöses oder erinnert an die Gymnasiasten, die ein Edition-Suhrkamp-Bändchen immer so aus ihrer Jackentasche ragen ließen, dass jeder sehen konnte, was sie da gerade Anspruchsvolles zu verstehen versuchten. Schlimm muss man das nicht finden. Jeder muss durch seine Kulturpubertät hindurch. Und es hat eben nicht nur einen großen Reiz, es auch Charme, aus einem Wittgensteinsatz ein Lied zu machen, in dem man statt „sprechen“ „singen“ singt. „O was soll ich noch für Lieder schreiben/ worüber man nicht singen kann, darüber muss man schweigen.“ Bitte, bitte nicht schweigen. Nein. Immer weitersingen.

So leicht aber ist es gar nicht, ein Lied zu machen. Weshalb Tocotronic eine Zeit lang – und auch das ist ein wahrscheinlich von einigen Prisen Literaturtheorie angefixter Import – Lieder über das Liedermachen geschrieben haben. Im schon zitierten „Jetzt geht wieder alles von vorne los“ heißt es auch „Nach der verlorenen Zeit/ habe ich erst mal weniger nachgedacht/ vielleicht darüber wie man ein paar neue Lieder macht“. Ein anderes dieser Meta-Lieder handelt vom Zweifel am eigenen Lied und beginnt mit den Versen „Gestern um halb drei/ habe ich noch ein Lied gemacht/ und ich rufe eine Freundin an/ mitten in der Nacht“. Und die Freundin bekommt das Lied dann am Telefon vorgesungen. Und der Anrufer schämt sich, als er wieder auflegt. Ein anderes heißt „Über Sex kann man nur auf Englisch singen“ und glaubt, das sei so, weil es auf Deutsch eben leicht peinlich klingen könne. Peinlich werden Tocotronic jedoch nie. Es wird auch, und das unterscheidet sie von anderen Deutsch singenden Bands, auch nie kitschig. Was höchstes Lob verdient.

Für mittleres bis schweres Zucken in den Körperregionen, an denen man die Peinlichkeit spürt, sorgt jedoch das Video zur aktuellen Single „Gegen den Strich“. Das Lied ist eine gekonnte, sehr eingängige Wortspielerei rund um die rhetorische Wendung „gegen den Strich“, den Titel des gleichnamigen Romans des französischen Fin-de-siècle-Schriftstellers Joris-Karl Huysmans und das zärtliche Streicheln von Hautpartien gegen die Haarwuchsrichtung. Das Ganze wird garniert von einem schon gern von Morrissey angeführten Oscar-Wilde-Zitat („talent borrows, genius steals“). In dem Video zu diesem Lied spielen Tocotronic vor der Gepäckausgabe im Ankunftsterminal eines Flughafens. Gegen Ende, nachdem alle Gitarren- und Tourkoffer vorbeigeglitten sind, liegt da doch tatsächlich Huysmans Roman auf dem Gepäckband. Das allein ist schon schlimm und, weil so platt, eigentlich peinlich. Aber dann handelt es sich dabei noch um eine hässliche deutsche Taschenbuchausgabe. Eine Übersetzung! Das ist zu viel oder viel zu wenig. Nein, nein. Jean Des Esseintes, dem ästhetizistischen Helden von Huysmans „Gegen den Strich“ hätte das gar nicht gefallen. So wird das nichts mit dem Dandy, das ist keine Dekadenz.

Auch in „Gegen den Strich“ wird, wie in vielen anderen Liedern, eine Redewendung aus ihrem gewöhnlichen Zusammenhang in einen anderen, manchmal überraschenden Zusammenhang verpflanzt. Ja, es scheint fast, als gäbe es da ein Nähkästchen, aus dem diese Tropen genommen und hier und da in die Texte eingeflochten würden. „alles in Allem“, „so jung kommen wir nicht mehr zusammen“, „das Salz in unserer Wunde“ und „auf den Hund gekommen“, dem aber gleich ein relativierendes „wie man sagt“ hinterhergeschickt wird, sind wohl aus diesem Wunderhorn geschüttet worden.

Eine Band muss sich verändern. Schon die Platte „K.O.O.K“ von 1999 wollte, wie Dirk von Lowtzow sagt, „die Alltagstopografie hinter sich lassen“. Auf dem vorletzten Album, das schlicht „Tocotronic“ hieß, und Produkt einer anderthalb Jahre währenden Studioarbeit war, wurde die Band dann noch deutlicher. Sehr programmatisch endete das letzte Lied „Neues vom Trickser“ mit dem Vers „Eines ist doch sicher/ Eins zu eins ist jetzt vorbei“. Das sollte wohl auch heißen: So wie bisher können wir nun, 2002, nicht weitermachen. Wir können nicht so tun, als sei nichts geschehen. Schluss mit dem Parkplatz-Realismus, wir können nicht mehr eindeutig sein. Die Texte stehen nicht mehr an der Imbissbude, sondern schweben eher ortlos im Nirwana einer Welt des l’art pour l’art. Und die Nachbarschaft zu anderen kunstreligiösen Traditionen wird gesucht, es wird von „Schatten“ und dem „Dazwischensein“, vom Gymnasiastenliebling H.P. Lovecraft und vom Horrorklassiker „Hellraiser“ gesungen. Die Lieder sind verrätselter und verraten nicht gleich, worum es ihnen geht. Manchmal verraten sie es auch gar nicht. Aber das ist nicht schlimm. Verse wie „Die Wirklichkeit, die uns vereint, trennt uns wieder vor der Zeit/ Vor der Zeit“ stehen dazwischen und ragen klar und hoch hinaus.

Auf „Pure Vernunft darf niemals siegen“ sind die Köpfe der vier Bandmitglieder als schemenhafte Köpfe in einem dichten Wald zu sehen, wie Waldgeister scheinen sie zwischen den Ästen und Blättern zu verschwinden. Und es fällt auf, dass die Band auch auf dem Backcover des weißen Albums in der Natur zu sehen war. Dort knieten sie, noch zu dritt, in einem hellen Birkenhain am Boden, als betrachteten sie einen Pilz. So richtig überzeugend wirkte ihr Naturinteresse (O, deutscher Wald!) allerdings nicht. Und in das Waldcover von „Pure Vernunft“ sind ihre Köpfe nur einmontiert. Passend dazu lautete die zweite Parole des Titelliedes denn auch „Wir brauchen dringend neue Lügen“.

Man muss deshalb aber nicht gleich befürchten, die Band könnte ins Irrationale abgleiten oder zum Exponenten eines deutschen Neokonservativismus werden. Dirk von Lowtzow erzählt, dass „Aber hier leben, nein danke“ eigentlich der Ausspruch einer deutschen Touristin in Gibraltar war, den er dort zufällig aufgeschnappt habe. Das Potenzial eines solchen Satzes zu erkennen, aus seinem Zusammenhang zu lösen und frei zu stellen, darin besteht die Kunst. Weniger abstrakt steckte dieses „Aber hier leben, nein Danke“ schon in „Let there be rock“, dem Lied über die langweiligste Landschaft der Welt und in der noch früheren Freiburgverfluchung. Und so, wie die Reise auf „Es ist egal, aber“ noch „Nach Bahrenfeld im Bus“ führte, so geht es heute etwas spiritualistischer in die Unterwelt. Beide Orte sind mir bisher unbekannt, aber ich hege den Verdacht, sie nehmen sich nicht viel. Mehr als ein Jahrzehnt nach „Ich habe 23 Jahre mit mir verbracht“ kann man schon mal ans Jenseits denken. „Pure Vernunft“ zeigt uns Orpheus Tocotronic in der Unterwelt.

„Tag der Toten“ ist ein Allerheiligenlied und das katholisch-romantische „Mein Prinz“ („Es ist für den, der uns begleitet/ Der unserer Schritte lenkt und leitet“) könnte mit wenigen Korrekturen auch ein Lied über Jesus sein. So genau lässt sich das nicht mehr entscheiden, eins zu eins ist längst vorbei. „Ich habe Stimmen gehört“ muss auch der, der diesen Liedern lauscht, erst einmal sagen. Kann Tocotronics Weg in die artifizielle Transzendenz oder den spirituellen Naturalismus, wie Huysmans ihn sich ausgedacht hat, noch aufgehalten werden? Vielleicht schon. Da ist ja immer noch das Schlagzeug, der Bass, die Gitarren. Und außerdem, wie beruhigend, wenn man hört, dass das alles auch gar nicht so ernst gemeint sein muss. Und dass da neben allen hochkulturellen Anspielungen auch Volker Lechtenbrink („All das mag ich“) vorkommen kann. Tocotronic geben zu, sich „der Schrulligkeit der eigenen Aussagen durchaus bewusst zu sein“. Dirk von Lowtzow sagt selbst, dass „das alles ein bisschen Nietzsche für Arme ist“.

Ein wenig ist es aber auch, und er muss sich dafür nicht verstecken, die Antwort auf die alte Sehnsucht, „irgendwas für dich (zu) sein“, „Teil einer Jugendbewegung zu sein“. Irgendwo dabei zu sein. Geraten Tocotronic am Ende in die katholische Kirche? Gehen sie den Weg von Bob Dylan und Friedrich Schlegel? Werden sie wie Joris-Karl Huysmans, der 1892, nachdem er sich in Sachen Dekadenz und Teufelsanbetung ausgetobt hatte, zum Katholizismus konvertierte, Laienbrüder in einem Benediktinerkloster werden? Vielleicht erleben wir noch Überraschungen.

David Wagner, Jahrgang 1971, ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Dieser Tage erscheint von ihm „Der Kunstschütze galt als einer der wenigen Artisten“ (Sukultur Verlag).

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