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Kultur: Schmerzenstöne aus Troja

MUSIKTHEATER

Kassandras Ruf ist leise. Die Seherin vernimmt „ein pfeifendes, ein auf dem letzten Loch pfeifendes Stimmchen“ – ein fremder Klang, der aus ihr selber kommt. Alle fürchten sich vor dieser Stimme: die königlichen Eltern und Geschwister, ganz Troja. Und keiner hört zu. 1983 erschien Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“. Hinter der Geschichte eines untergehenden Troja, das sich schon vor dem Angriff der Griechen selbst zu zerfleischen beginnt, verbarg sich Zeitgenössisches: der Zerfall der DDR, der west-östliche Rüstungswahn. Vor allem aber das Ringen der Frauenbewegung, Gehör zu finden.

Für seine 1994 in Paris uraufgeführte Kassandra wollte der Genfer Komponist Michael Jarrell keine Singstimme. Kassandra rollt den Faden ihres Lebens auf, sie weiß: gleich wird sie hingerichtet. Das geht nicht im Arioso. Die Schauspielerin Anne Bennent im Konzerthaus Berlin ist als Kassandra schlicht und ergreifend: bei aller Kindlichkeit eine abgeklärte, zu sanftem Spott neigende Seherin. Eine verhaltene Rezitation, deren apollinische Klarheit beeindruckt. „Der Schmerz soll uns an uns erinnern“, weiß Kassandra am Ende. In metallischen Tönen aus dem Orchester gleißt dieser Schmerz auf. Der Orchestersatz, den das Ensemble UnitedBerlin unter Andrea Pestalozza mit kantabler Wärme realisiert, macht all die Emotion hörbar, die Kassandra hinter sich gelassen hat. Immer bleibt das Ensemble temperiert – nicht nur wenn kurz in den Holzbläsern eine Dur-Melodie in Gedenken an den geliebten Äneas aufblüht. Wenn das Orchester die Atmosphäre an Trojas Hof mit giftig schimmerndem Klangteppich illustriert, spürt man körperlich, wie eine Familie zerfällt.

Jens Hinrichsen

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