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Kultur: Schöne Leich’

Im Kino: Das Society-Drama „Wilde Unschuld“

1972 erstach der amerikanische Millionärssohn Antony Baekeland seine Mutter Barbara in der gemeinsamen Wohnung in London. Das Verbrechen erregte hohe Aufmerksamkeit, weil die Beteiligten jahrzehntelang die europäischen Schickeria-Treffpunkte abgeklappert hatten. 1981 nahm sich der Mörder sich im Gefängnis das Leben, 1985 erschien der Roman „Savage Grace“, der anhand von Zeugenaussagen die grässliche familiäre Tragödie rekonstruierte und nun von Tom Kalin für die Leinwand adaptiert wurde.

Kalin ist, zusammen mit Todd Haynes, ein Pionier des „New Queer Cinema“, das Anfang der neunziger Jahre das ausschließlich auf Inhalte fixierte Schwule Kino perspektivisch und ästhetisch erweiterte und ablöste. Schon mit seinem Erstling „Swoon“ gewann Kalin internationale Anerkennung, weil er einen spektakulären Kriminalfall nicht ausschlachtete, sondern auslotete – und genau dies tut er nun 15 Jahre später in seiner zweiten Regiearbeit „Wilde Unschuld“.

Die High-Society-Familiengeschichte in Fragmenten beginnt 1946: Da ist Antony etwa ein Jahr alt und wird von Mutter Barbara nur so lange beschmust, wie er keine Flecken auf ihrem Kleid hinterlässt. Solche nämlich kann das ehrgeizige Ex-Model nicht auf ihrer Garderobe gebrauchen, in der sie vor allem zur Dekoration ihres superreichen, eitlen Mannes Brooks herhält; dessen Großvater hatte mit der Erfindung und Produktion des ersten strapazierfähigen Kunststoffs Bakelit ein Vermögen gemacht.

Julianne Moore und Stephen Dillane spielen das glamouröse Paar mit schlafwandlerischer Anmut und provozierender Teilnahmslosigkeit – was die Verlassenheitsgefühle des kleinen Tony geradezu mutwillig herausfordert. Die Szenen liegen im großen zeitlichen Abstand voneinander; mal zeigen sie Brooks beim Fechten, während seine verkaterte Frau sich nur mühsam aufrafft, um ihr Kind von der Schule abzuholen; später sieht man den jungen Mann mit Freunden, eifersüchtig beobachtet von der Mutter, in einem französischen Badeort; der Vater ignoriert ihn ebenso wie die eigene Frau – und interessiert sich umso mehr für eine Freundin seines Sohnes.

Als Brooks Frau und Kind endgültig verlässt, beginnt eine verschwiemelte Beziehung zwischen dem hübschen jungen Mann und seiner nicht mehr jungen Mutter, in die gelegentlich die Liebhaber Antonys integriert werden. Dabei wird reichlich Gebrauch von Drogen und Alkohol gemacht, man schreibt schließlich die sechziger Jahre. Dass diese Konstellation nur in einer Katastrophe enden kann, liegt nahe, und Tom Kalins lückenhafte Dramaturgie lässt viel Platz für Fantasien. Mitunter teilt sich die von ihm evozierte Atmosphäre geradezu physisch mit: die Hitze und Langeweile der träge verbummelten Nachmittage an der französischen Küste und auf Mallorca; die entsetzliche Leere in einer teuren Wohnung im Londoner Herbst. Es gibt nur Verlierer in diesem Familiendrama. Aber immerhin: Sie sehen gut aus. Daniela Sannwald

Cinemaxx Potsdamer Platz, Kulturbrauerei; OmU im Central

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