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Kultur: Schöner lügen

Herzensklug, verstandeskühl: Patrice Chéreau mit Mozarts „Così“ beim Festival von Aix-en-Provence

Draußen, unterm weiten provenzalischen Sternenhimmel, ist die Luft unter Umständen ziemlich dünn. Dünner als drinnen jedenfalls, als in jedem ordinären Theater oder Opernhaus. Das weiß, wer im Théâtre de l’Archevêché von Aix-en- Provence antritt. Denn ob die Schwalben nun tief fliegen oder eine Möwe schreit, ob ein Windstoß das einsame Bäumchen dieser pittoresken „Naturbühne“ erzittern lässt oder der Sitznachbar fröstelt – hier ist alles Ereignis. Der alte Brecht (und mit ihm Shakespeare! Goldoni! Marivaux! Mozart!) hätte an dieser Versuchsanordnung gewiss seine Freude gehabt. Der Betrachter betrachtet sich beim Betrachten – und gibt sich so schnell keiner Verführung, keiner bloßen Illusion mehr hin.

Entsprechend weit muss die Kunst sich die Brust aufreißen, um ihre kulinarischen Ansprüche zu wahren (wenn sie denn welche zu wahren haben will). Merkwürdige Bilanz um 0 Uhr 40 Ortszeit, nach gut viereinhalb Stunden Mozart in Aix: Eine vornehmere, sensiblere, empfindsamere, bis in die feinsten Verästelungen der Personenpsychologie hinein geradezu beängstigend perfekt ausgeleuchtete, eine bescheidenere und herzensklügere „Così fan tutte“ hat man gewiss selten zu sehen bekommen; und zugleich keine, die einen so kalt, so verstandeskühl just darüber staunen ließe und einen letztlich so herzlich wenig bewegte. Tribut – siehe oben – an den natürlichen V-Effekt des Ortes? Tribut an ein Stück, ein dramma giocoso, dem die Desillusionierung des ewig Guten und Schönen, die Verwechselbarkeit von Wahrheit und Lüge wie keinem zweiten eingeschrieben ist?

Die Liebe, sagen Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte – und schon die gern bejammerte Kluft zwischen der Frivolität des Textes und der „goldflimmernden“ Erhabenheit der Musik spricht hier Bände –, die Liebe gibt es nicht ohne Liebesverrat, das Bekenntnis nicht ohne Betrug, das große echte Gefühl nicht ohne flüchtiges Begehren. Und also wären wir, die wir dieses wüssten, auf dass wir uns im Leben endlich leichter täten, am Ende allesamt Zyniker, Sarkastiker, Versteinerte, seelenlos Erkaltete, Abgefallene von jedwedem besseren Glauben?

Mozart indes wäre nicht Mozart und alles andere als der Anwalt eines höhnischen Hedonismus, wenn es ihm gerade in „Così“, dieser Scuola degli amanti, nicht um die innere Fallhöhe des Geschehens zu tun wäre. Dieser, wie gesagt, stellt sich Patrice Chéreaus Inszenierung nicht. Die Kostüme (Caroline de Vivaise) geben sich historisierend und sind exquisit gemacht, der Raum (Richard Peduzzi), die kahle, andeutungsweise gerümpelige Hinterbühne eines Theaters, beschwört die ganze Armut, die ganze Nacktheit der Kunst herauf (und also ihren unermesslichen Reichtum!), das fehlfarbene Licht (Bertrand Couderc) tut ein Übriges, und die einzelnen Choreografien sind von einer derart bestrickenden Natürlichkeit und Anmut, dass man sich förmlich im Kino wähnt und es schmerzlich bedauert, vor allem in den Ensembles, dass es keine Nahaufnahmen gibt, von jenen betrogenen Betrügern, jenen verlobungswütigen Augenblicksmenschen: Etwa wenn im „Addio“-Quintett des ersten Aktes jede jeden und jeder jede am ausgestreckten Arm in eine andere Richtung zieht, Fiordiligi ihren Guglielmo, Ferrando seine Dorabella, wie in Zeitlupe und todtraurig, als würde die ganze Welt in dieser Zerreißprobe stille stehen; oder auch wenn die Herren der Schöpfung im zweiten Akt mit „Così fan tutte!“ die Moral von der Geschicht’ verkünden und Chéreau sie dazu wie drei provenzalische Dorfälteste nebeneinander auf eine Bank setzt. Männergespräche, Stammtischweisheiten, sonst nichts.

Die sparsamen Umbauten übrigens besorgt heinzelmännchenflink eine Hand voll kostümierter Techniker – und wo es Not tut, packen auch die Solisten mit an. Diese haben zu einem großartig präzisen Mozart-Ensemble zusammengefunden: Erin Wall singt die Felsen-Arie der Fiordiligi mit leuchtender lyrischer Emphase und im kecken Bewusstsein, dass sie der Wut in ihrem Bauch längst selbst nicht mehr traut; Elina Garancas Burgunder-Mezzo zeichnet eine halb melancholische, halb draufgängerische Dorabella; Stéphane Degout und Shawn Mathey setzen dem Schaulaufen der Türken-Szenen schauspielerische Glanzlichter auf und harmonieren auch stimmlich aufs beste; die Despina der Barbara Bonney, eine aufreizend emanzipierte Person, hat alle Kammerkätzchen-Allüren abgestreift; und Ruggero Raimondi, dem inzwischen doch etwas knatterigen Alfonso aller Alfonsos, verzeiht man an diesem Abend ohnehin alles.

Ein Spiel also. Ein Spiel, aus dem die Figuren auch schon einmal heraustreten dürfen, nach vorne in den Saal. Mehr Erklärungsbedarf freilich sieht Chéreau nicht, alles soll sein „wie im richtigen Leben“ und „ganz einfach“. Spätestens wenn das Protagonisten-Sextett im finalen Tutti einen zärtlich-tröstlichen Kreis bildet, wenn Erschöpfung und Ratlosigkeit also all das Böse und Bittere, auch: alles Utopische einer Botschaft ersetzen, spätestens dann beschleicht einen der Verdacht, man könnte es hier mit einem Fall von hochprofessioneller Altersregie à la Peter Stein oder Peter Zadek zu tun haben. Mozart, sagt der – erst! – 61-jährige Chéreau, das einstige Wunderkind der Oper, ist viel zu groß, um ihn den konkreten Niederungen unserer Gegenwart auszusetzen. Prompt verbieten sich alle Fragen nach den Bedingungen eines so und nicht anders gearteten Geschlechterverhältnisses (Männer sind die Drahtzieher, Frauen die Hysterisch-Wankelmütigen, auch wenn das Stück diesen Spieß lustvoll umzudrehen weiß) – und überhaupt nach der gesellschaftlichen Verträglichkeit einer auf Herzensergüssen basierenden Emotionalität. Fragen, die die protestierenden Studenten vor dem Palais de l’Archevêché bestimmt gerne gestellt hätten. „La culture pour qui?“, war auf einem ihrer Plakate zu lesen. Die Vorwehen des Mozartjahres 2006 aber verheißen allesamt bislang nichts derart dialektisch Kritisches oder gar Grundsätzliches.

Dass Chéreau das Mechanische und Triebgesteuerte der Partitur letztlich ebenso wenig glücken will wie das Tragische, liegt auch an Daniel Hardings Dirigat. Und das, seltsam genug, obwohl dieser sich am Pult des glänzend gelaunten Mahler Chamber Orchestra um jede nur erdenkliche Zuspitzung und Straffung des Geschehens bemüht. Ob nun in der Ouvertüre, sobald die Streicher laufen lernen, die Herzschläge jenen zum Trotz alles übertönen, ob man zu „Soave sia il vento“ weniger die sanft sich kräuselnden Wellen vernimmt, als das, was unter der Wasseroberfläche brodelt, oder ob das Klangbild überhaupt von knarzenden Bläserspitzen beherrscht wird: Am Ende fehlt dieser Musik doch der Bauch, das Gemüt, die Fleischeslust. Ob das noch wird, noch wächst? Mozart würde sagen: ja. Schließlich wandert die Produktion noch an die Pariser Oper und zu den Wiener Festwochen. Zwei Orte, an denen die Luft in jedem Fall dicker ist.

Christine Lemke-Matwey

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