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Kultur: Schöner scheitern

Die Berliner Universität der Künste eröffnet das Nachlassarchiv des Philosophen Vilém Flusser

Von Gregor Dotzauer

Bodenlosigkeit war die zentrale Erfahrung seines Lebens. Doch jeder Versuch, ihr beizukommen, trug zugleich die Hoffnung in sich, sie möge dauern. Vilém Flusser schrieb und dozierte auf Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Französisch und in seiner Muttersprache Tschechisch. Was er in der einen nicht sagen konnte, formulierte er in der nächsten. Ähnlich hielt er es mit den Denkschulen. Die Unwegsamkeiten der einen korrigierte er mit denen einer anderen: den Salonmarxismus seiner Jugend mit der sprachanalytischen Strenge von Wittgenstein, dessen mystisches Hinterland, das er mit Angelus Silesius und Dostojewski bereiste, wiederum mit Kants „kristalliner Würde“, und deren Akademismus endlich mit einer Passion für die monologischen Sprachfluten von João Guimarães Rosas Roman „Grande Sertão“.

Flusser, 1920 als Sohn einer jüdischen Professorenfamilie in Prag geboren und 1939 über London nach São Paulo emigriert, wo er ab 1963 Kommunikationsphilosophie lehrte, war ein einzigartiger Synkretist. „Zum Schriftsteller berufen“, wie er glaubte, erprobte er ein Denken abseits der Schulphilosophie – „Bodenlos“ eben, wie auch seine Autobiografie hieß, immer in der Hoffnung auf ein skepsisresistentes Engagement. „Wenn ich mich in Brasilien nicht gefunden habe und Brasilien nicht in mir, bedeutet es, dass ich den Boden meines In-der-Welt-Seins nicht gefunden habe“, erklärte er. „Auf diese Weise formuliert, erhält mein Scheitern eine religiöse Qualität. Mein Leben war ein Leben ohne Religion, in Suche nach Religion; ist das nicht eine Definition der Philosophie?“

Flussers Lehre, in ihrer anthropologischen und geschichtsphilosophischen Dimension weit mehr als eine Medientheorie, befindet sich heute in einer seltsamen Lage. Einerseits ist ihr Einfluss neben derjenigen des Kanadiers Marshall McLuhan kaum zu überschätzen; andererseits steht ihr posthumer Härtetest noch aus: die Überprüfung ihres digitalen Vernetzungsoptimismus an den Realitäten der Blog- und Second-Life-Welten. Denn Flusser starb 1991, aus Prag kommend, bei einem Autounfall kurz vor der tschechisch-deutschen Grenze – noch bevor das World Wide Web erblühte.

Gerade deshalb könnte es reizvoll sein, sich mit Flusser neu zu beschäftigen und auch sein Nachlassarchiv zu durchforsten, das ab morgen an der Berliner Universität der Künste (UdK) wieder öffentlich zugänglich wird. Bis vor kurzem befand es sich noch – mit rund 2500 Manuskripten, einer unüberschaubaren Korrespondenz und seiner Reisebibliothek – an der Kölner Kunsthochschule für Medien. Zusammen mit seinem treuhänderischen Verwalter, dem Medientheoretiker Siegfried Zielinski, der es von der Witwe Edith Flusser erhielt, ist es nun mit nach Berlin umgezogen. Zum Bestand (und Eröffnungsprogramm) gehören auch Videoaufnahmen, die Flusser als den philosophischen Showman zeigen, der er bei aller Ernsthaftigkeit auch war: Erst im Gespräch und vor Studenten lief er zu Höchstform auf.

Unverändert anregend sind seine Thesen vom Triumph des begrifflichen Denkens über das magische in der Entwicklung der abendländischen Schriftkultur – und deren Untergang im Sturm der Bilder und „Techno-Bilder“. Vom steten Zweifler und zwischen Apokalypse und Hoffnung schwankenden Manichäer wandelte er sich jedoch zusehends zu einem romantischen Utopisten. Zuletzt arbeitete er an einer Neuauflage von Martin Bubers Dialogphilosophie für die „telematische Gesellschaft“. Technisch global vernetzt, so hoffte er, könne sie die fest gefügten „Diskurse“ der Massenmedien aufbrechen. Vom drohenden Kollaps eines Systems, das nur noch aus Sendern und nicht mehr aus Empfängern besteht, konnte er damals noch nichts ahnen.

Eröffnung am Donnerstag um 19 Uhr in der Aula der UdK Berlin, Grunewaldstraße 2 – 5. Sonstiger Zugang nach Anmeldung unter flusser@udk-berlin.de

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