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Kultur: Schönheit in Eisen

Jugendstil als Rebellion: Eine Ausstellung im Bröhan-Museum würdigt den Architekten und Designer August Endell.

Die Besucher müssen sich wie in einer Grotte oder im Aquarium, vielleicht auch wie im Bauch eines Wals gefühlt haben. Stachlige, an umgedrehte Tannenbäume erinnernde Lampen verströmten indirektes Licht, alle Flächen des Saals – Wände, Teppiche, die Decke, Ballustraden und die Polster der Sitzreihen – waren mit Ornamenten überzogen. Eine Wohlfühlhöhle aus schwungvoll fließenden, sanft ausfransenden und nervös gezackten Formen. Wandpfeiler sahen wie fantastisch verfremdete Blumenstengel aus, die Muster auf Wänden und Decken wie mikroskopisch vergrößerte Meereslebewesen. Die Besucher werden gestaunt haben. Bis das Licht verlosch, der Bühnenvorhang sich öffnete und die Show begann.

Als am 28. November 1901 das „Bunte Theater“ an der Köpenicker Straße 68 in Berlin-Mitte eröffnete, war das ein gesellschaftliches Ereignis. Der Schriftsteller und Impresario Ernst von Wolzogen, als „Baron Brettl“ verehrt und verspottet, war aus München in die Reichshauptstadt gezogen, um dort seine Vision eines „Überbrettls“ zu verwirklichen. Den Begriff prägte er in Anlehnung an Nietzsches „Übermenschen“. Wolzogen wollte das Kabarett – in Österreich, wo er geboren war, „Brettl“ genannt –, buchstäblich überbieten. „Rezitationen, ein- und mehrstimmige Lieder und Gesänge, kleine Lustspiele und Grotesken erster lebender Autoren“, versprach ein Plakat. Im Foyer stand eine Nietzsche-Büste. Der Philosoph, der das Dionysische feierte, als Patron einer Unterhaltungsbühne: eine kühne Idee.

Entwürfe und Fotos des Wolzogen- Theaters sind in einer Kabinettausstellung des Bröhan-Museums zu sehen, die den Architekten und Designer August Endell ehrt. Als er den Auftrag bekam, das Bunte Theater auszustatten, war Endell gerade mit seinem ersten Gebäude, dem Fotoatelier Elvira am Münchner Hofgarten, berühmt geworden. Die Fassade des Fotoateliers wurde von einem gewaltigen Drachenornament beherrscht, das zum Wahrzeichen des deutschen Jugendstils aufsteigen sollte.

Das Atelier ist ein Gesamtkunstwerk, und auch Wolzogen bekommt ein Gesamtkunstwerk. Bei dem Umbau eines ehemaligen Tanzsaals kümmert sich Endell um jedes Detail und entwirft sogar die Kleidung für die Platzanweiserinnen. Inspiration zur Gestaltung der Ornamente findet er in dem Bildband „Kunstformen der Natur“ des Zoologen Ernst Haeckel. Nach der Eröffnung schwärmt er in einem Brief an den Schriftsteller Karl Wolfskehl: „Das erste Mal in meinem Leben, dass ich für Stunden ganz dort sein konnte, wo ich eigentlich hingehöre. Zum ersten Male, wo ich nicht mühsam eine Umgebung erträumen brauchte, sondern die Umgebung greifbar mich umhüllte, mir gab, und mein Ich zum ersten Mal receptiv träumend mühelos das genoss, was ich bis dahin nur unter Schmerzen in anstrengender Fantasiearbeit hatte schauen können. Es ist berauschend so sich selbst zu sehen, von sich selbst umgeben zu sein.“

Endell muss neben Nietzsche auch Freud gelesen haben. In seinem Werk, Produkt einer „Fantasiearbeit“, wollte er den eigenen Träumen begegnen. Doch die Utopien der Jugendstilkünstler hatten durchaus auch eine politische Stoßrichtung. Der Rückwärtsgewandtheit der wilhelminischen Staatskunst mit ihrer neoromanischen, neogotischen, neobarocken Zierrat setzten sie neue Zeichen entgegen, die sie in der Formensprache der Natur oder auf japanischen Holzschnitten entdeckt hatten. Damit machten sie sich Feinde. Die Nationalsozialisten ließen 1937 Endells Drachen von der Fassade des Fotoatliers Elvira schlagen.

„Wir werden eine neue Cultur herbeitanzen! Wir werden dem Übermenschen auf dem Brettl gebären! Wir werden diese alte Welt umschmeißen! Das Unanständige werden wir zum einzig Anständigen krönen!“, verkündete der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum, ein Mitstreiter Wolzogens. Ökonomisch scheiterte die Vision des „Überbrettls“. Wolzogen hatte sich für die Gründung verschuldet, als das Publikum ausblieb, musste er das Theater 1902 schon wieder schließen. Das Gebäude wurde später als Kino genutzt und im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff zerstört.

August Endell gehört zu den bedeutendsten deutschen Jugendstilkünstlern. Sein Fotoatelier Elvira hat einen Platz in de Standardwerken zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts gefunden. Umso erstaunlicher, dass sein Gesamtwerk erst jetzt gewürdigt wird, mit der Ausstellung im Bröhan-Museum und einer umfassenden Monografie, die auf ein Symposium des Kunsthistorischen Instituts der FU Berlin zurückgeht. Viele von Endells Arbeiten sind verschwunden, darunter mehrere Villen an der Berliner Peripherie und sämtliche Salamander-Schuhgeschäfte, die er ab 1908 für den Berliner Unternehmer Rudolf Moos gestaltete.

Fotos zeigen luxuriöse Verkaufsräume mit elegant geschwungenen Holzmöbeln. Konsumtempelchen, in denen die Schuhe wie Museumsexponate in Glasvitrinen ausgestellt waren. Die Ornamentik beschränkte sich nach dem Overkill im Wolzogen-Theater nun auf sparsame Stucksterne, -blätter und -wellen. Besondere Akribie verwendete Endell auf die Lichtregie in den Schaufenstern. Er sei „der größte Magier unter den Schaufensterkünstlern Berlins“, konstatierte der Kunstsammler Karl Ernst Osthaus. „In Endells Händen gewann das Licht erst seinen mythischen Zauber.“

Endell reduziert seine Formensprache, zum Geniestreich wird die Trabrennbahn, die er von 1911 bis 1913 im Auftrag des Verlegers, Galeristen und Pferdezüchters Bruno Cassirer in Mariendorf errichtet. Bei den beiden Tribünen erheben sich aus dem gelb geklinkerten Unterbau baumartig verästelte Stahlstützen, die das Dach tragen. Graziöse Ingenieurbaukunst von einem Architekten, der bis dahin noch nie mit dem Material Eisen gearbeitet hatte. Allerdings hatte Endell 1908 in seinem Traktat „Die Schönheit der großen Stadt“ fasziniert die Eisenstützen und die Mauerbögen der Hochbahn am Gleisdreieck beschrieben. Heute befinden sich die Tribünen in einem renovierungsbedürftigen Zustand. Der Zielrichterturm wurde 1978 abgerissen.

Zurückhaltende Grandezza strahlt das „Haus am Steinplatz“ aus, das 1908 entstand, als Berlins „Neuer Westen“ nach der Eröffnung des Bahnhofs Zoo einen rasanten Aufschwung erlebte. Hinter einer Fassade, deren Spitzbogenfenster auf maurisch-orientalische Einflüsse verweisen, fanden sich großbürgerliche Etagenwohnungen und die Pension Morath, die im Baedeker von 1908 „50 Zimmer zwischen 7 und 16 Mark“ offerierte.

Den Historismus der Wohnbauten am Kurfürstendamm verspottete der Architekt als „kurfürstendammliche Ausschweifungen“. Nach jahrelangem Leerstand soll sein Prachtgebäude nun in ein Luxushotel verwandelt werden. Viele Touristen, die Berlin besuchen, begegnen ohnehin einem von Endells Hauptwerken: den Neumannschen Festsälen, die 1906 nach seinen Plänen in den Hackeschen Höfen gebaut wurden. Wer dort ins Kino oder Variete geht, kommt im Treppenhaus an Gusseisenblättern und Blütenkapitellen vorbei.

Bröhan-Museum, bis 20. Mai, Di-So 10-18 Uhr. Das Begleitbuch (Imhof Verlag) kostet 39,95 €.

August Endell (1871–1925) studierte Philosophie

und wechselte als Autodidakt zur Architektur. Der Bau des Münchner Fotoateliers Elvira machte ihn 1897 berühmt.

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