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SCHREIB Waren: Alles so schön grau hier

Steffen Richter wundert sich über den Mythos vom „Leseland DDR“

Mit dem Mythos vom „Leseland DDR“ wird es noch ein böses Ende nehmen. Dass nicht nur der sozialistische Höhenkamm, sondern Krimis und Reiseberichte beliebt waren, hatte schon die ostdeutsche Leseforschung herausgefunden. Mittlerweile aber wird untersucht, was über illegale Kanäle über die Mauer gelangte. Es waren eben nicht Orwells „1984“ oder Joyces „Ulysses“, die auf der Liste der Begehrlichkeiten ganz oben standen, auch nicht Bahros „Alternative“ oder Havemanns „Dialektik ohne Dogma“.

Stattdessen: Unterhaltungsliteratur, Comics, Erotika und die Kataloge der Häuser Neckermann und Otto – die schöne, bunte Welt des Kapitalismus. Zu diesen Ergebnissen kommt eine junge Disziplin, die der Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis „Zensurwirkungsforschung“ nennt. Im letzten Jahr gab es in Leipzig eine Konferenz zum Thema, jetzt liegen die Beiträge im äußerst spannenden Band Heimliche Leser in der DDR (Ch. Links Verlag) vor. Neben den geschmuggelten Objekten verblüfft vor allem die Vielzahl der „Löcher“ in der Mauer. Sie reichen vom einfachen Postweg über Bücherklau auf der Leipziger Messe und manuelles Abschreiben bis zu kuriosen Verstecken wie Eisenbahn-Toilettenkästen. Die Herausgeber Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag stellen das Buch heute (20 Uhr) im Brecht-Haus vor (Chausseestr. 125).

Die 48 Schwänke von Volker Brauns neuem Buch, seinem „Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“ (Suhrkamp) handeln vom ostdeutschen Tagebau. Es geht um eine „Landschaft, durch die die Arbeit gegangen ist“, eine Gegend, „die es hinter sich hat“. Ohne Übertreibung: Kein Autor kann Braun derzeit das Wasser reichen, wenn es darum geht, in höchstpräziser poetischer Sprache von Übergängen zu erzählen. Deswegen die dringliche Empfehlung, die Buchpremiere am 1.10. (20 Uhr) in der Akademie der Künste am Pariser Platz nicht zu verpassen.

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