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Schreib-Waren: Go east, young man!

Steffen Richter reist der Sonne entgegen

„Träumt Britannien, wenn es schläft?“, fragt Thomas Pynchon in „Mason & Dixon“, seinem grandiosen Landvermesserepos. Und wenn: „Ist Amerika sein Traum?“ Nun, die britische REM-Phase, in der lebhaft geträumt wird, kennt sicherlich etliche Amerikabilder. Doch wovon träumt Europa noch so?

Nein, das „Go west, young man!“ war nie die einzige Traumrichtung. Gerade im 20. Jahrhundert gab es auch – sehr ambivalent – den Osten. Aus dem Traum vom angeblich auf Unterwerfung wartenden „Ostland“ ist man in Deutschland spätestens in Stalingrad erwacht. Doch weil der Osten anschließend hinter dem Eisernen Vorhang lag, war er aus westlicher Perspektive nicht vorhanden, unentdeckt wie einst Amerika. Westeuropa konnte sich für Europa halten. Das hat sich nach dem Mauerfall geändert. „Der Osten liegt in der Mitte“ behaupten nun die Literaturtage des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) unter Berufung auf den ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch. Statt Geopolitik gibt es hier Geopoesie. Deren Protagonisten vermessen den Kontinent neu und betreiben seine „Verschiebung“. Diese „Ost-West-Passagen“ finden mal im Modus von Vertreibung und Deportation statt wie etwa in Emma Braslavskys „Aus dem Sinn“. Sie können aber auch mit Bora Cosics Erkundungsreisen ins alte Jugoslawien („Die Reise nach Alaska“) oder mit Peter Demetz nach Prag gehen („Mein Prag“). Der Osten wird in Dzevad Karahasans „Berichten aus der dunklen Welt“ als Grenzgebiet zwischen Christentum und Islam beleuchtet, der Westen in Yadé Karas „Selam Berlin“ als „gelobtes Land“ entzaubert. Das alles findet am 4. 12. (ab 14 Uhr 30) und 5.12. (ab 13 Uhr 30) im Literaturhaus statt (Fasanenstr. 23, volles Programm: www.literaturhaus-berlin.de). Wie der Traum vom Osten gegen reale Bilder eingetauscht wird, kann man auch in der aktuellen Ausgabe von „Trajekte“ nachlesen, der Zeitschrift des ZfL.

Eine andere Zeitschrift feiert ihr 60. Jubiläum im Zeichen von Schlaf und Traum: Sinn und Form. Bis 1962 wurde das Aushängeschild der DDR-Intelligenz vom Dichter Peter Huchel geleitet. Nach dem Mauerbau sollte es „auf Linie“ gebracht werden. Huchel musste elf Jahre in der Isolation seines märkischen Refugiums Wilhelmshorst unter Stasi-Beobachtung verbringen, ehe er ausreisen durfte. Zweifellos ein Alptraum. Die Jubiläumsnummer von „Sinn und Form“ wird am 2. 12. (20 Uhr) unter dem Motto „Metaphysik der Schlaflosigkeit“ in der Akademie der Künste am Pariser Platz gefeiert. Denn Schlaflosigkeit, zum einen eine Tortur, kann zum anderen zu gesteigerter Wachheit führen. Dieser Wachheit fühlt sich „Sinn und Form“ verpflichtet, von ihr soll im Gespräch zwischen Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt, Verleger Michael Krüger und Autor Thomas Hürlimann die Rede sein. Sicher waren 60 Jahre „Sinn und Form“ nicht nur ein rosaroter Traum.

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