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SCHREIB Waren: Rotkäppchen in Babylon

Steffen Richter freut sich über einen wieder aufgetauchten Tausendsassa

Mitten im Wendetrubel des Jahres 1990 erschien ein Büchlein mit dem Titel „Es war einmal“. Darin erzählten vermeintlich 61 DDR-Schriftsteller von Volker Braun bis Christa Wolf in ihrer je eigenen Manier das Märchen vom Rotkäppchen. Das ist keine harmlose Kindergeschichte, sondern ein Drama um Verführung, blindes Vertrauen und Verrat. Die Mutter (Partei) gebietet, nicht vom rechten Weg abzukommen. Doch gerade abseits des Wegs warten ästhetische Verlockungen (Schau die Blumen und Vöglein, säuselt der Wolf). Letztlich ist alles (die ganze DDR?) eine Frage von Fressen oder Gefressenwerden.

Tatsächlich war ein einziger Autor für alle Texte verantwortlich: Peter Wawerzinek. Seine exzellenten Pastiches, also stilistische Imitationen, bildeten einen ironischen Abgesang auf die DDR-Literatur und beantworteten auf ihre Weise die Frage: Was bleibt? Aber wo ist Wawerzinek selbst geblieben? Für dauerhaften Erfolg war der Tausendsassa immer zu sprunghaft und unberechenbar. Sein Kollege Jan Faktor nannte das einmal „Selbstsabotage“. Wawerzinek ist eben alles auf einmal: Romancier, Stegreifpoet, Performer, Hörspielautor, gelegentlich Sänger. Abgesehen von früheren Jobs wie Briefträger oder Mitropa-Kellner. Wawerzinek (Jahrgang 1954) stammt aus Rostock. Zehn Jahre hat er in Heimen zugebracht, weil seine Eltern nach der Geburt aus der DDR flohen und ihr Kind zurückließen – als schlechte Erfahrung sollte das für ein Schriftstellerleben genügen. Später wurde Wawerzinek der Prenzlauer-Berg-Szene zugerechnet.

Er habe dort gelebt, betont er, sei aber nicht eingemeindet gewesen. Nachlesen kann man das im Roman „Mein Babylon“. Nun ist nach längerer Zeit wieder eine Publikation angekündigt: „Da bist du ja oder Die Mutterfindung“. Ausgangspunkt ist Wawerzineks späte Begegnung mit seinen Eltern im Westen sowie die lapidare Begrüßung der Mutter: „Da bist du ja.“ Erfahrungsgemäß dürfte es trotz des ernsten Themas sehr unterhaltsam werden, wenn Peter Wawerzinek am Donnerstag, 31. Juli (19 Uhr), gemeinsam mit dem Lyriker und Fotografen Florian Günther am Berliner Büchertisch Platz nimmt (Mehringdamm 51).

Dieser Büchertisch e. V. ist eine höchst sinnvolle Angelegenheit: Wer alten Bücherballast (auch Zeitschriften, Platten, CDs) loswerden will, ist hier an einer guten Adresse. Der Büchertisch sammelt, sortiert und verteilt die Geschenke weiter – an Schul-, Gefängnis- oder Krankenhausbibliotheken. Der Rest wird zur Kostendeckung verkauft, wenngleich Kinder prinzipiell ein Buch ihrer Wahl geschenkt bekommen. Von den drei Filialen liegen zwei in Kreuzberg. Überhaupt atmet das im Jahr 2004 gegründete Gemeinschaftsprojekt einen sehr kreuzbergerischen Geist.

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